Was gehe ich mich selber an?

Gerade habe ich wieder einen dieser Anglizismen zum Selbermachen aufgeschnappt. Er lautet „In-and-Out-Liste“. So etwas wird im Rahmen der guten Vorsätze fürs neue Jahr erstellt und will uns bewusst machen, was wir uns künftig häufiger und was wir uns weniger wünschen: mehr Strandspaziergänge, weniger To-Do-Listen oder so. Das Sympathische daran ist, dass wir erkennen, wie groß unser Einfluss auf die Art ist, wie wir unser Leben gestalten.
Das ist längst nicht so banal wie es klingt.

Als Mitarbeiter einer Hamburger Musicalschule war ich irgendwann in den Nullerjahren eine Zeitlang als Coach tätig. Das Institut verpflichtete einige seiner Lehrkräfte, mit kleineren Gruppen von Langzeitarbeitslosen zu workshoppen, um die Performance im Dialog mit potenziellen Chefs zu verbessern.
Der Tanzdozent tanzte mit seiner Gruppe, die Gesangsdozentin sang mit ihnen, der Schauspieldozent improvisierte Szenen mit ihnen. Aber was sollte ich als Geschichtslehrer tun? Da wir mit jeder Gruppe dreimal zusammentrafen, überlegte ich mir drei Gesellschaftsspiele, die die Einsicht zur Pointe hatten, wie schnell wir im Alltag dumme Sachen sagen, ohne uns etwas dabei zu denken. Meine Überlegung und Überzeugung: wenn wir Phrasen wie „Blut ist dicker als Wasser!“, „Jeder Mensch ist ein Künstler!“ oder „Mit mir kann man über alles reden!“ einfach vermeiden (oder sie nur dann sagen, wenn wir von ihnen tatsächlich überzeugt sind), wirken wir etwas konzentrierter und vielleicht weniger töricht.
An einem der Tage verteilte ich Karten, auf denen solche Sätze notiert waren, und bat die Probanden, sie vorzulesen und dann zu erklären, ob, inwiefern und warum sie ihnen zustimmten oder nicht.

Ich stellte fest, dass alle den ihnen zufällig zugeteilten Satz sehr ernst nahmen. Sie fanden ihre Sätze auch allgemein zutreffend und verteidigten sie, und das sogar dann, wenn der Inhalt so absurd und bösartig war, als stammte er aus unserem heutigen „Diskurs“, etwa: „Wer mit 30 noch nicht in einer festen Beziehung lebt, hat sein Leben verpfuscht!“

Besonders aufschlussreich war aber eine Übung, die ich nur einmal durchgespielt habe. Am letzten Tag der Maßnahme bekam ich eine Runde noch ein viertes mal zugeteilt, da ein Kollege verhindert war. Ich spielte mit ihr „Was ich mag – Was ich nicht mag“. Meine Botschaft: Wir sollten uns klarmachen, was wir uns wünschen und es auch artikulieren. Man wird uns nicht jeden Wunsch erfüllen, aber die Quote wird besser sein als wenn wir unsere Vorlieben für uns behielten. Das passte sehr gut in unser Konzept des Bewerbungsgesprächs.
Weil ich diese Aufgabe so simpel fand – und ich habe mich gründlich geirrt! – bat ich darum, jeder möge zehn Dinge in die erste Spalte schreiben und zehn in die zweite. Ich bat darum, nicht so Selbstverständliches aufzuschreiben wie „Krieg mag ich nicht“ – „Urlaub mag ich“ – „Lottogewinn find ich besser als Krebs“, sondern persönliche Vorlieben und Abneigungen. Zuletzt würden wir uns die Ergebnisse gemeinsam ansehen und einander besser kennenlernen.

Bis auf einen Teilnehmer, der das Ganze sehr spielerisch anging, nahmen alle diese Aufgabe sehr missmutig auf. Sie reagierten angefasst. Es fiel ihnen nichts ein. Ein Murren erhob sich. Mit dieser Reaktion hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Als es ans Vorlesen ging, waren die Zettel fast völlig leer, es stand da lediglich ganz vereinzelt „Urlaub“, „Lottogewinn“ bzw. „Krieg“ und „Krebs“ … Als ein wuchtiger älterer Herr verbal mit dem Vorwurf auf mich losging, das alles gehe mich doch nichts an und was das überhaupt solle, musste ich einsehen, dass ich hier als einziger etwas dazugelernt hatte.
Kein ruhmreicher Abschluss meiner Coaching-Erfahrung.

Dieser Beitrag wurde unter Gesellschaft, Literatur, Monty Arnold - Biographisches abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert