Wohnwelten (8): Winston Smith, ein Mensch des Jahres „1984“

Im Flur des Victory-Blocks roch es nach gekochtem Kohl und feuchten Fußmatten. An der Rückwand war ein grellfarbiges Plakat, das für einen Innenraum eigentlich zu groß war, mit Reißnägeln an der Wand befestigt. Es stellte nur ein riesiges Gesicht von mehr als einem Meter Breite dar: das Gesicht eines Mannes von etwa fünfundvierzig Jahren, mit einem dicken, schwarzen Schnauzbart und ansprechenden, wenn auch derben Zügen. Winston ging die Treppe hinauf. Es hatte keinen Zweck, es mit dem Aufzug zu versuchen. Sogar zu den günstigsten Stunden des Tages funktionierte er nur selten, und zur Zeit war tagsüber der elektrische Strom abgestellt. Das gehörte zu den wirtschaftlichen Maßnahmen der in Vorbereitung befindlichen Hass-Woche. Die Wohnung lag sieben Treppen hoch.
Drinnen in der Wohnung verlas eine klangvolle Stimme eine Zahlenstatistik über die Roheisenproduktion. Die Stimme kam aus einer länglichen Metallplatte, die einem stumpfen Spiegel ähnelte und rechter Hand in die Wand eingelassen war. Der Apparat, ein sogenannter Televisor oder Hörsehschirm, konnte gedämpft werden, doch es gab keine Möglichkeit, ihn völlig abzustellen. Er war gleichzeitig Empfangs- und Sendegerät. Jedes von Winston verursachte Geräusch, das über ein ganz leises Flüstern hinausging, wurde von ihm registriert. Außerdem konnte Winston, solange er in dem von der Metallplatte beherrschten Sichtfeld blieb, nicht nur gehört, sondern auch gesehen werden.
Er ging quer durchs Zimmer in die winzige Küche, in der es nichts zu essen gab außer einem Stück Schwarzbrot, das für den nächsten Tag zum Frühstück aufgehoben werden musste. Er nahm aus dem Regal eine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit, die dem schmucklosen weißen Etikett nach „Victory-Gin“ war. Das Getränk strömte einen faden, öligen Geruch aus, wie chinesischer Reisschnaps.
Winston ging ins Wohnzimmer zurück und setzte sich an ein links vom Televisor stehendes Tischchen. Dann zog er aus der Tischschublade einen Federhalter, eine Tintenflasche und ein dickes, unbeschriebenes Diarium im Quartformat mit rotem Rücken und marmorierten Einbanddeckeln hervor.   
Aus irgendeinem Grunde war der Televisor in seinem Wohnzimmer an einer ungewöhnlichen Stelle angebracht. Statt wie üblich an der kürzeren Wand, von wo aus er den ganzen Raum beherrscht hätte, war er an der Längswand gegenüber dem Fenster eingelassen. An seiner einen Seite befand sich die kleine Nische, in der Winston jetzt saß und die vermutlich beim Bau der Wohnung für ein Bücherregal bestimmt gewesen war. Wenn er sich so in die Nische setzte und vorsichtig im Hintergrund hielt, konnte Winston wenigstens visuell, außer Reichweite des Televisors bleiben. Nun war er im Begriff, ein Tagebuch anzulegen. Die ungewöhnliche Anlage des Zimmers war zum Teil für den Gedanken verantwortlich …

Redigiert aus der Ullstein-Ausgabe (1976) des Romans von George Orwell

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