betr.: Geschworene sprechen Boris Becker in London schuldig
Manches historische Ereignis wird zum Teil der eigenen Biografie. Und so wie jedes Waldtier in Disneyland heute noch genau weiß, wo es sich befunden hat als Bambis Mutter erschossen wurde, so weiß ich noch, wo ich den Abend nach Boris Beckers erstem Sieg in Wimbledon verbracht habe: in der Vereinsklause unseres Fanfarenzuges. Ich selbst hatte nie etwas mit Tennis am Hut, baute mir zu Boris Becker aber die Eselsbrücke, dass wir beide vom selben Jahrgang sind.
All die biertrinkenden Hetero-Jungs waren total aus dem Häuschen und ließen „de Boooris“ in ihren kumpelhaften Jubelgesängen hochleben, als hätten sie alle in der Grundschule neben ihm gesessen.
Vor einigen Tagen las ich nun, dass der damals 17jährige Tennisprofi die nämliche Schulbank im Sommer 1985 schon seit etwa einem Jahr gar nicht mehr gedrückt hat (dass es in Deutschland möglich ist, einfach mit der Schule aufzuhören, wenn man keine Lust mehr hat, hätte ich gern früher gewusst). Diese Information ist das letzte Teilchen in einem ansonsten seit Jahrzehnten stimmigen und vollständigen Puzzlespiel.
Kurz nach seinem Triumph saß Boris Becker in einer großen Samstagabendshow (es kann eigentlich nur „Wetten dass ..?“ gewesen sein) und stammelte und stotterte sich durch den Talk. Das war sehr goldig und einem Jugendlichen vom Land, der plötzlich im Mittelpunkt des Interesses steht, auch zutiefst angemessen. Es schien sogar etwas Schlagfertigkeit dahinter aufzublitzen, eine Art Mutterwitz. Dennoch lief mir ein leiser Schauer über den Rücken. Ich hatte das bestimmte Gefühl, die persönliche Entwicklung Boris Beckers würde damit zuende sein. Ich war sicher, er würde sich gegen die Erwartungen, Verlockungen und halbseidenen Jetset-Freunde nicht wehren können – und gewiss nicht wehren wollen.
In den folgenden Jahren bestätigte sich dieser Eindruck. Beckers Erfolgsgeschichte schirmte ihn jahrelang von jeder Herausforderung ab, die nicht im Sinne des Trainings oder des Effektes in der Klatschpresse war. Während er körperlich weiterreifte, blieb sein Sound der aus der TV-Sendung. Alles was er sagte, klang nach dem Prahlen des Sitznachbarn, der es nicht nötig hat, wiederzukommen. Sein Tun jenseits des Tennisplatzes war irritierend und vollständig frei von Hintersinn und Mutterwitz.
Diese Entwicklung war umso sichtbarer als Boris Becker in Steffi Graf eine gleichaltrige Kollegin hatte, die ihren privaten Tücken mit größerer Reife und Besonnenheit begegnete als er – zumal die ihren nicht alle selbstgemacht waren.
Nicht, dass ich von meiner schulischen Laufbahn eine gute Meinung hätte. Das meiste, was uns dort unter Qualen hereingewürgt wurde, hatte so wenig mit dem Leben zu tun, dass wir alle es bei der Zeugnisvergabe schon wieder vergessen hatten. Aber die Schulzeit gibt der Jugend eine gewisse Struktur. Sie ist ein wichtiges Gesellschaftsspiel. Auch wenn man dazu die meiste Zeit keine Lust hat.
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