Unbedingt reinlassen: „Miriam“

betr.: 91. Geburtstag von Truman Capote

Die Geschichte beginnt wie eine Episode der „Twilight Zone“ – denkbar alltäglich. Zunächst lernen wir Mrs. H. T. Miller kennen, eine Witwe, die in sehr gewöhnlichen Mittelklasse-Verhältnissen ihren Lebensabend verbringt. Sie hat keine großen Sorgen, ist aber ein wenig einsam.
Bei einem spontanen winterlichen Kinobesuch trifft sie auf ein seltsames Mädchen, dünn und mit albinoweißem Haar, in einen pflaumenblauen Samtmantel gehüllt.
Das Mädchen heißt Miriam – auch die Geschichte trägt diesen Titel.
Miriam bringt Mrs. Miller mit ihrer unverwandten Art nicht nur dazu, sie ins Kino einzuladen, sie lässt sich auch Pfefferminzpastillen anbieten und entlockt ihr in der Folge noch die eine oder andere Großzügigkeit.

Bald darauf klingelt Miriam nämlich unangemeldet spätabends bei ihr und wird eingelassen. Mit einer Mischung aus kleinen Komplimenten und einer schierer Frechheit, die vielleicht nur derart junge Menschen zum Sieg führt – und auch die müssen es sehr geschickt anstellen –, knabbert sich das Kind in das Leben der alten Dame hinein, spürt dessen Leerstellen auf und nimmt ungeniert in ihnen Platz.
Selbstverständlich bleiben wir im Unklaren darüber, wer sie eigentlich ist. Und wie sie Mrs. Millers Adresse herausgefunden hat, gehört zu den Banalitäten, mit denen sie sich gar nicht erst aufhält.
Wir Leser sind, gemeinsam mit der älteren Heldin, etwas zu fasziniert von ihr, um uns rechtzeitig gegen ihr Tun aufzulehnen. Vielleicht weil wir ahnen, was sie im Schilde führt.

Seit ich diesen zwölfseitigen Text zum ersten Mal las – das ist jetzt 32 Jahre her – habe ich ihn nicht vergessen können. Und seinen Autor auch nicht. Truman Capote erhielt dafür den O’Henry-Preis, benannt nach dem Vater und Großmeister der amerikanischen Kurzgeschichte.

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