Sprechen am Mikrofon: ON und OFF (4)

Fortsetzung vom 29.6.2020

Im ON versuche ich mit meinen Kollegen, so glaubhaft und natürlich wie möglich, eine Kommunikation zwischen mehreren Menschen nachzubilden. Was Friedrich Schoenfelder in seinem Geleitwort zum „Lexikon der Film- und Fernsehsynchronisation“ über dieselbe sagt, trifft auf jeden Dialog an Mikrofon und auf praktisch jede künstlerische Darstellung zu: „Einen perfekt synchronisierten Film sollte man daran erkennen, dass man in keiner Sekunde auf den Gedanken kommt, dass er synchronisiert wurde!“ Es sollte sich gar nicht erst nach einem Vortrag anhören.
Wer im ON spricht, bildet somit etwas Alltägliches nach. Das ist nicht ohne – schließlich dauert eine Schauspielausbildung drei bis vier Jahre. Doch das OFF ist noch schwieriger, weil eben nicht alltäglich.
Hier muss das eigentlich unlösbare Kunststück vollbracht werden, körperlos zu sprechen.
Dabei ist folgendes zu beachten:

1. Meine Aussprache muss korrekt sein (ohne übertrieben korrekt zu wirken). Sobald ich davon abweiche – durch eine Sprachmarotte, Schmatzen, Rascheln, zu lautes Atmen etc. – richtet sich die Aufmerksamkeit des Zuhörers sofort auf mich und die Frage: wer liest denn da? In diesem Moment ist der Zuhörer für den Inhalt meines Vortrags unweigerlich verloren. Auch Betonungsfehler führen zu einer solchen Ablenkung.
Etwas anders verhält es sich, wenn ich als Erzähler gleichzeitig eine der handelnden Figuren bin: dann übernehme ich natürlich deren Marotten und Eigenheiten. Die beschriebene Irritation bleibt aus, weil die Frage „Wer liest denn da?“ bereits beantwortet ist.

2. Ich muss mich bei allem inhaltlichen Engagement, allem Aus- und Nachdruck aus der erzählten Geschichte heraushalten. Ich darf nicht mit den Figuren im ON konkurrieren. Es muss klar sein, dass ich als „allwissender Erzähler“ gleichwohl kein höheres Wesen bin, das die Figuren in der Not um Hilfe anrufen können.

3. Da ich als Erzähler keinen Körper habe, empfinde ich auch keinen Schmerz, keine Schwerkraft, keine Hitze und Kälte, keine körperliche Anstrengung und zeitige auch sonst keine der physischen Reaktionen, die die Figuren im ON auszeichnen. Wenn ich also z.B. davon erzähle, wie zwei Herren ein Klavier die Treppe hinauftragen, tue ich das, ohne ihren schweren Atem zu übernehmen. Nur in der wörtlichen Rede gehe ich angemessen auf solche Dinge ein.

4. Mein emotionales Engagement darf ein gewisses Maß nicht übersteigen (siehe Punkt 3). Ich sollte aber darauf achten, dass ich mit meiner Stimmung der der Erzählung nicht im Weg stehe. So darf ich, wenn der Text das Angebot macht, mit dem Helden zu leiden, dies nicht durch Gleichgültigkeit oder übertriebene Heiterkeit hintertreiben. Oder umgekehrt.
Die Kunst besteht darein, hier das richtige Maß zu finden.

5. Dieser Hinweis betrifft im gleichen Maße den Interpreten wie auch die technische Betreuung: als OFF habe ich keinen Raum. Ich spreche wie zu einem einzigen Zuhörer (und nicht etwa zu dem Heer der Tausenden, die mir möglicherweise gerade zuhören). Dabei verhalte ich mich in Präsenz und Lautstärke so, als würde sich am Platz des Mikrofons ein menschliches Ohr befinden.
Als Hörer muss ich darauf vertrauen können, dass mir der Erzähler niemals ins Ohr brüllen wird.

Dieser Beitrag wurde unter Buchauszug, Fernsehen, Film, Medienkunde, Mikrofonarbeit abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert