Die wiedergefundene Textstelle: „Papillon“ und was zuvor geschah (1)

Der Lebensbericht „Papillon“ von Henri Charriere ist weniger populär als die gleichnamige Verfilmung von 1973 – und weitaus gewalttätiger. Der „Tresorknacker und Totschläger, Bagno-Sträfling und Ausbrecher“ (Klappentext) entschied sich ohne jeden vor-vorherigen Kontakt mit irgendwelcher Literatur zur Niederschrift seiner Erlebnisse, nachdem er 1967 einen Bestseller über sein Lebensthema entdeckt hatte, von dem er dachte: „Also, wenn von dieser Farce hundertdreiundzwanzigtausend Bücher verkauft wurden, dann werd ich mit dem, was ich alles in dreißig Jahren erlebt habe, dreimal mehr an den Mann bringen.“
Nun ist ergreifendes Missgeschick ja noch längst keine gute Literatur. Und die Verlage ersoffen zu dieser Zeit aufgrund des erwähnten Erfolges in allerlei Versuchen, das nächste erfolgreiche Knast- und Ausbrecherbuch vorzulegen. Doch Charrière hat es gut gemacht. Sein Lektor beteuert, so gut wie nichts geändert zu haben.

In einer Nachbetrachtung des „Papillon“ hat Jean-Francois Revel später einen Vergleich mit Gregor von Tours gezogen, einem gallischen Bischof, der von 540 bis 594 gelebt hat – zu einer Zeit also, da das Erleben noch eine zwingende Voraussetzung für das Verfassen von Belletristik war und Stil und Fantasie noch gar keine Rolle spielten. Ihm sprang besonders diese Stelle aus Charrières Buch ins Auge:

Nackt auf dem eiskalten Gang, die Nase zur Wand, vier Finger breit von ihr entfernt, warte ich als vorletzter in einer Reihe von acht Mann darauf, an dem Arzt vorbeidefilieren zu dürfen. Ich wollte jemanden sehen … schön, es ist mir gelungen. Der Profos überrascht uns in dem Moment, da ich Julot, genannt „der Mann mit dem Hammer“, ein paar Worte zuflüstere. Die Reaktion dieses wilden Rotschädels ist fürchterlich. Ein Fausthieb auf den Hinterkopf erschlägt mich fast, und da ich den Schlag nicht habe kommen sehen, knalle ich mit der Nase gegen die Wand. Das Blut spritzt, und nachdem ich mich wieder aufgerichtet habe, schüttle ich mich und versuche mir bewusst zu werden, was eigentlich geschehen ist. Ich mache eine abwehrende Bewegung. Der Koloss, der nichts anderes erwartete, gibt mir einen Tritt in den Bauch, der mich erneut zu Boden wirft, und fängt an, mich mit seinem Ochsenziemer zu bearbeiten. Julot kann das nicht mit ansehen. Er fällt über ihn her, es kommt zu einem furchtbaren Tumult, und da Julot ihn unter sich hat, sehen die Wärter der Rauferei unbeteiligt zu. Niemand beachtet mich. Ich stehe wieder auf und sehe mich nach einer Waffe um. Da bemerke ich, dass sich der Arzt in seinem Sessel im Ordinationszimmer vorbeugt, um nachzusehen, was auf dem Gang los sei. In diesem Moment hebt sich unter dem Druck des Dampfes der Deckel des heißen Emaillekessels auf dem Ofen, der das Zimmer des Arztes heizt.
Mit einer raschen Reflexbewegung ergreife ich den Kessel bei den Henkeln, verbrenne mich zwar, lasse ihn aber nicht los und schütte dem Profos das kochende Wasser ins Gesicht. Er hat mich nicht gesehen, so sehr war er mit Julot beschäftigt. Ein gewaltiger Schrei dringt aus seiner Kehle, es hat ihn ganz schön erwischt. Er wälzt sich auf dem Boden und reißt sich die drei Trikots, die er übereinander trägt, eins nach dem anderen herunter. Bein dritten geht die Haut mit. In dem Bemühen, durch seinen engen Halsausschnitt zu kommen, geht ein Stück der Brusthaut, die Haut am Hals und die ganze Haut der Wange ab und bleibt am Trikot kleben. Auch das einzige Auge ist verbrannt und erblindet. Endlich erhebt sich Tribouillard. Blutverschmiert, mit bloßliegendem Fleisch, grauenhaft anzusehen. Julot nutzt die Gelegenheit, um ihm einen Tritt in die Hoden zu versetzen. Der Riese bricht zusammen und beginnt zu erbrechen, zu speien. Unsere Rechnung ist beglichen.
Die beiden Aufseher, die die Szene mit angesehen haben, fühlen sich nicht stark genug, um uns anzugreifen. Sie pfeifen Verstärkung herbei. Von allen Seiten kommen die Wärter, und nun prasseln die Peitschenhiebe auf uns nieder wie Hagelschauer. Ich habe das Glück, sehr rasch umzufallen und spüre die Schläge nicht mehr.

Es folgt Jean-Francois Revels Überlegung zu diesem Text …

Dieser Beitrag wurde unter Film, Literatur, Manuskript abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert