Der Ich-Erzähler und Du (3)

betr.: Lesen vom Blatt / Sprechen am Mikrofon

Über die Herausforderung, einen Ich-Erzähler zu gestalten

Fortsetzung vom 6. April 2024

Die beschriebene Struktur der „Schachtel in der Schachtel“ wird schon im Schriftbild deutlich: in Form der einfachen Gänsefüßchen. (So ungern ich solche Zeichen selbst setze, so hilfreich finde ich sie beim Lesen).

Bereits in Sherlock Holmes‘ Debüt-Fall „Eine Studie in Scharlachrot“ kommt es zu einer ausführlichen Dialogsituation, die wir nachträglich und aus zweiter Hand serviert bekommen. (Genaugenommen ist es sogar die dritte, da Dr. Watson ja der Erzähler ist. Aber das ist zu vernachlässigen, da Watson sehr im Hintergrund bleibt und sich verhält wie sein eigener erster Leser.)

Dieser kleine Ausriss ist nur der Anfang. Watson / Doyle gönnt der unsympathischen Nebenrolle „Tobias Gregson“ einen durchgehenden Monolog über dreieinhalb Seiten. Er verzichtet sogar auf die obligatorischen Einschübe, die uns wie kleine Weckrufe immer wieder daran  erinnern, wo wir sind (in einer Rückblende). Der Autor vermeidet also Sätze wie „Er machte eine Pause und rieb seine Hände aneinander, so dass ein schabendes Geräusch entstand.“ oder „Seine blinzelnden Augen fixierten unverwandt einen kleinen Wasserfleck an der Decke seines Büros, der ihm in drei Jahren nie aufgefallen war, ehe er unbeirrt fortfuhr …“.
Nichts gegen solche Einschübe – bei guten Autoren sind sie sehr vergnüglich und niemals reine Zeilenschinderei von der Sorte „Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Er setzte sich wieder und fuhr fort …“.
Doyle tut eher zu wenig, um zwischen „allwissendem“ und „subjektivem Erzähler“ zu unterscheiden (also den tratschenden Charakter innerhalb der Erzählung mit einem persönlichen Sound zu kennzeichnen).
Aber wie gesagt: wenn wir vom Blatt lesen, haben wir diese Details ohnehin nicht zu bewerten; wir nehmen sie so wie sie auf den Tisch kommen.
Je weniger der Verfasser selbst darauf achtet, den Stil des Erzählers im Erzähler zu pflegen, desto wichtiger ist es, dass wir es beim Vortrag tun. Wir müssen Gregson eine eigene Stimme geben, um danach mit unserer eigenen fortzufahren.

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