betr.: Radiokritik „Noël Coward. 125 Jahre. ‘A marvellous party‘.“ – eine SWR „Musikstunde“ von Nick Sternitzke
Was für eine berührende Überraschung zum Jahreswechsel: der hierzulande restlos vergessene Universalkünstler Noël Coward erlebt eine vierstündige Würdigung im öffentlich-rechtlichen Kulturradio. Und die lohnt sich! Die Zeit wird genutzt, um Cowards Songs zu spielen und seine Modernität zu feiern – obwohl es zu seiner Kompetenz als (sozial)medialer Selbstdarsteller noch viel mehr zu sagen gäbe*, aber es ist ja schließlich eine Musiksendung.
Wir hören nicht nur einige der viel zu selten gespielten knapp 680 Songs des Künstlers, wir blicken auch in seine wenigen Abgründe, etwa die törichte Weigerung, „My Fair Lady“ zu schreiben, oder die Vorbehalte gegen Oscar Wilde und die Beatles. Gut: zu Letzterem wäre verteidigend zu sagen, dass Cowards Kritik sich auf die rock’n’rolligen Anfänge der Band bezogen haben dürfte und dass später, als die Beatles immer vielseitiger, origineller und offensichtlicher genial wurden, der Zwist längst zu festgefahren war, um noch entknotet zu werden. Die Funkreihe ist so beschaffen, dass der kundigere Zuhörer zu solchen Überlegungen animiert wird, während der Novize ausreichend Anlass erhält, tiefer in die Materie einzusteigen.
Besonderes Vergnügen machte mir die Suche nach der Inspiration für Noël Cowards erste Operette „Bitter Sweet“, über deren Entstehung allerlei Widersprüchliches berichtet wird. Zuletzt wird der Song „What Is Love“ gespielt und auf seine Ähnlichkeit zu „Bin nicht der Liebessklave einer Königin“ aus „Die Perlen der Cleopatra“ von Oscar Straus hingewiesen. Doch es gibt eine noch heißere Spur. Sie führt zu Alexander Borodin. Was Cowards Kollegen Wright & Forrest knapp 25 Jahre nach „Bitter Sweet“ aus dessen Musik für ihr Musical „Kismet“ gemacht haben, ist beinahe identisch mit „What Is Love“ (dort heißt der Song „He’s In Love“).
Solche Detektivarbeit hätte dem als Spezialisten verkannten Fachautor Volker Klotz gut angestanden, doch dessen Blick auf das Thema Operette war eher amateurhaft strukturiert: was ihm persönlich nicht gefiel, wurde schlicht unerwähnt gelassen. (Dieses beschämende Versäumnis wird in der Anmoderation zur 4. Folge höflich gewürdigt.)
Ein wenig betrübt war ich, Coward so selten selbst singen zu hören, und wenn, dann fast ausschließlich in den späten Hi-Fi-Aufnahmen aus amerikanischer Herstellung. Cowards frühe Schellack-Aufnahmen präsentieren ihn uns nicht nur als überaus anmutigen Sänger, sie bringen die Doppelbödigkeit seiner romantischen Songs viel besser zur Geltung als die klassisch geführten Cover-Versionen berühmterer Gesangsstars, die für den – so möchte ich es nennen – unaussprechlichen Subtext von Cowards Poesie ausnahmslos kein Organ besitzen.**
Wer weiß: vielleicht hätte Nick Sternitzke, der in der für ihn üblichen Weise vorgeht (sorgfältig, fair, vergnügt und mit einem kenntnisreichen Blick über den Tellerrand seines Themas hinaus) eine Stunde seiner Reihe diesem Aspekt gewidmet, wäre selbige nicht von der Musikredaktion aus der Woche des Coward-Geburtstags (der war schon am 16.12.) in die feiertagsbedingt etwas verkürzte Programmwoche des Jahreswechsels verschoben worden.
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* Über die Verdienste Noël Cowards um die Definition unseres heutigen Prominenz-Begriffs informiert uns Tamara Hahn in einer Serie, die hier beginnt: https://blog.montyarnold.com/2023/02/21/noel-coward-a-question-of-masks-1/
** Siehe https://blog.montyarnold.com/2024/12/30/27036/