Prima vista 0,5: „Falconer“

betr.: Lesen vom Blatt / Übung

Eine Prima Vista Lesung in abgemilderter Form lässt sich durchführen, wenn man sich verschiedene Übersetzungen der selben Textpassage vornimmt: die erste wird still gelesen, die zweite laut.
Der Inhalt ist bekannt, der Wortlaut ändert sich.

Heutiges Beispiel: aus „Falconer“ von John Cheever

Variante 1:

Faragut war drogensüchtig und der Meinung, daß das Bewußtsein des Opiumessers breiter, umfassender und repräsentativer für die Condition humaine sei als das Bewußtsein jener, die nie in Berührung mit Drogen gekommen sind. Er benötigte als Droge ein Destillat aus Erde, Luft, Wasser und Feuer. Er war sterblich, und seine Sucht war eine wundervolle Illustration der Grenzen seiner Sterblichkeit. Er hatte während des Kriegs auf irgendeiner Insel erstmals Erfahrungen mit Drogen gemacht. Das Klima dort war erstickend, die Dschungelfäule seiner behaarten Partien eiterte, und der Feind war mörderisch. Der Truppenarzt hatte literweise einen klebrigen, gelben Hustensirup verordnet.* Jeden Morgen trank die Kampfgruppe ein Glas davon und ging in die Schlacht, high und in Frieden mit dem erstickenden Klima, dem Eiter und dem Morden. Die nächste Station war Benzedrin.  Benzedrin und die Bierration brachten ihn durch den Krieg und zurück an seine eigenen Gestade, zu seinem Heim und seiner Frau. Unschuldsvoll stieg er von Benzedrin auf Heroin um, und fast jede Meinung, die er hörte, bestärkte ihn in seiner Sucht. Gestern war das Zeitalter der Angst, das Zeitalter des Fisches, und heute, an seinem Tag, seinem Morgen, war das mysteriöse und abenteuerliche Zeitalter der Spritze. Seine Generation war die Generation der Süchtigen. Die Sucht war seine Schule, sein College, seine Flagge, unter der in die Schlacht marschierte. Jede Zeitung, jedes Magazin, jede Stimme aus dem Äther verkündete die Proklamation der Sucht. Sucht war das Gesetz des Propheten. Als er zu lehren begann, spritzten sich sowohl er wie der Vorstand des Departments vor jeder großen Vorlesung, da sie zugaben, daß das, was die Welt von ihnen erwartete, nur mit Hilfe der Essenz einer Blume hervorgebracht werden konnte. Es war Herausforderung und Reaktion. Die neuen Gebäude der Universität setzten die menschlichen Maßstäbe außer Kraft; sie sprengten die menschliche Einbildungskraft und die wildesten Menschheitsträume.

„Falconer“, Droemer Knaur 1978

Variante 2:

Drei

Farragut war drogenabhängig und glaubte, dass das Bewusstsein eines Opiumessers viel umfangreicher, detaillierter und bezeichnender für die Conditio humana war als das Bewusstsein eines Menschen, der nie süchtig gewesen war. Als Droge benötigte er ein Destillat aus Erde, Luft, Wasser und Feuer. Er war sterblich, und seine Sucht veranschaulichte das aufs Schönste. Seine ersten Drogenerfahrungen hatte er im Krieg auf einer Insel gemacht, auf der eine drückende Hitze herrschte, die Dschungelfäule an seinen behaarten Körperpartien eiterte und der Feind mörderisch war. Der Kompaniearzt hatte Unmengen eines klebrigen gelben Hustensafts bestellt*, und jeden Morgen tranken die Angehörigen der Kampftruppe ein Glas davon und zogen in die Schlacht, angetörnt und in Frieden mit der drückenden Hitze, dem Eiter und dem Morden. Als nächstes kam Benzedrin an die Reihe. Das Benzedrin und seine Bierration brachten ihn durch den Krieg und in sein Land zurück, zu seinem Heim und seiner Frau. Ohne eigene Schuld stieg er von Benzedrin auf Heroin um und wurde von seinem Umfeld in seiner Sucht bestärkt. Gestern war das Zeitalter der Angst, das Zeitalter der Fische, und heute, sein Tag, sein Morgen, war das geheimnisvolle, abenteuerliche Zeitalter der Nadel. Seine Generation war die Generation der Süchtigen. Die Sucht war seine Schule, sein College, die Flagge, unter der er in den Kampf zog. Die Sucht wurde in jeder Zeitung, in jeder Zeitschrift und von jeder Stimme im Radio verkündet. Sie war das Gesetz der Propheten. Am Beginn seiner Professorenlaufbahn setzten er und sein Dekan sich vor jeder großen Vorlesung einen Schuss, womit sie zugaben, dass das, was die Welt von ihnen erwartete, nur mithilfe der Essenz einer Blume hervorgebracht werden konnte. Es war Herausforderung und Antwort. Die neuen Gebäude der Universität überstiegen das menschliche Maß, die menschliche Vorstellungskraft, die wildesten Menschheitsträume.

„Willkommen in Falconer“, Dumont 2012

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* Das Verb
to order wird erst mit verordnen, später mit bestellen übersetzt.

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