Fortsetzung vom 14. Juni 2021
Diesen Bericht seiner späten Aktivitäten als freier Filmmusikproduzent verfasste Richard Kummerfeldt im Exil in Südamerika für ein (deutsches?) Fachmagazin bzw. einen gewissen John. Es gewährt Einblicke in die letzten Jahre der Tonträgerindustrie vor deren Verschlafen der digitalen Revolution, in die Welt der käuflichen Filmmusik, die Seele des Sammlers (heute „Nerd“), die Finessen des sich wandelnden Urheberrechts und erzählt von der Arbeit mit schwierigen Bürohengsten und Künstlerpersönlichkeiten Mitte der 90er Jahre.
Rückbau
Zunächst entmüllte ich VRCs Ex-Garage, um dann den Versand und/oder den Wareneingang zu machen – ein ziemlicher Knochenjob.
Und die bösen Überraschungen hörten nicht auf.
Die Erstbestellung der DA kam herein. Nur etwa die Hälfte der Titel waren lieferbar. So musste ich die fehlenden Titel bei der „P & O Compact Disc“ bestellen, wo alle CDs gepresst wurden. Liefern wir gerne, sagte man mir, aber erst wenn die offenen Rechnungen bezahlt seien.
Offene Rechnungen? Welche Rechnungen? „Wir schicken Ihnen gerne eine Gesamtaufstellung und die Rechnungskopien. Vielen Dank für Ihren Anruf!“
Bei der P & O mussten lauter Klone von Frau Schreiber arbeiten, so schnell, zuverlässig und effizient lag am nächsten Morgen ein handliches, aber verdächtig dickes DIN A5 Kuvert auf meinem Tisch. Was zum Vorschein kam, war ein freundliches Anschreiben, eine Aufstellung der noch offenen Rechnungen und die versprochenen Kopien. Das Kuvert hatte einen Wert von über 30.000 DM. Mich traf mal wieder der Schlag.
Ich sprach mit Thomas, meinem Boss, der mich darauf aufmerksam machte, dass die Rechnungsdaten alle schon Monate zurücklagen. Was er mir damit schonend beibringen wollte, war, dass die Produktionen und Nachauflagen ab der letzten Rechnungsstellung der P & O von ihm bezahlt worden waren. Größenordnung? Etwa der gleiche Betrag. Was würde noch kommen? Der Endstand der nicht bezahlten Rechnungen, die eindeutig Alhambra zuzurechnen waren, überstieg die 70tausender-Marke. Ich Idiot hatte einen Schweizer Franken (den ich übrigens nie bezahlt habe) gegen einen Berg von Schulden eingetauscht. Ich musste mich mit allen Gläubigern irgendwie einigen, wenn ich mir nicht zahlreiche Mahnverfahren einhandeln wollte. Und das tat ich. Jeder bekam nach und nach sein Geld, aber Alhambra musste sich mit dem Einkauf neuer Bandrechte einstweilen zurückhalten.
Nun meldeten sich auch Odense, Berlin und … MJL. Der Meister wollte für notwendige Nachbesserungen 2.500 $ von mir. Nachbesserungen? Oder hatte er eine Autopanne gehabt, und die Werkstatt bat zur Kasse? Ich hatte keinen Dunst, und es war ja auch egal. Ich war der sprichwörtliche nackte Mann, dem man nicht in die Tasche fassen konnte.
Der RIAS war sehr ungehalten, und ich hoffte inständig, dass dem zuständigen Redakteur durch die Situation kein Nachteil entstand.
Vom Erfolg der „Miss Marple“ war mein Boss überzeugt. Er löste die Bänder unter zwei Bedingungen aus: der Titel wurde auf seinem „Label X Europe“ veröffentlicht, und Heinz, er und ich waren in dem Projekt gleichberechtigte Partner (Kosten und Gewinne würden gedrittelt). Die Differenz zu den von uns tatsächlich gezahlten Kosten wollte er zu gleichen Teilen an Heinz und mich auszahlen. Das tat er auch.
Nobel, nobel, nobel! Dieses Geld half Heinz und mir, aus der Kinonummer* glimpflich herauszukommen.
Unser Filmpalast wurde zum 30. September 1994 geschlossen, und Heinz wollte ein Büro anmieten, um den Filmvertrieb weiter zu betreiben. Bei einem Gespräch trat der Gute in seine eigene Falle. Er sprach von „seinen russischen Filmen“. Davon hatte ich noch nie gehört. Auf mein hartnäckiges Nachbohren rückte er schließlich damit heraus: er hatte einen Russen kennengelernt und war mit diesem zum Filmeinkauf nach St. Petersburg und nach Kasachstan geflogen. Was er mitgebracht hatte, waren ein Dutzend Videocassetten. Als er mir die nach Beendigung seines Verleih-Abenteuers nach Hamburg schickte, sah ich sie mir an. Es war durchweg unverkäuflicher Schrott. Und Heinz hatte eine goldene Regel missachtet: wenn man Filme aus einem Land kauft, das bisher weltweit nicht sonderlich durch seine Filmproduktion aufgefallen ist, konzentriert man sich auf einen Regisseur und sein bisheriges Werk. Man bietet ein Programm an, verbunden mit der Anregung, der interessierte Sender könne ja als Aufhänger für seine Werkschau eine Dokumentation über den Regisseur drehen.
Was wir hatten, war ein genreübergreifender Haufen Mist. Auf meine Frage, ob er diese Reise vor oder nach Odense gemacht hatte, ließ er unbeantwortet. Hatte er die Reise nachher gemacht, hatte er mich hinsichtlich der finanziellen Lage belogen, und das wäre das sofortige Ende unserer Freundschaft gewesen. Er trüge damit die alleinige Verantwortung für die Desaster in Odense und Berlin. Das wollte ich lieber gar nicht so genau wissen, und ich bohrte nicht weiter nach. Von MJL wollte mein Boss nichts wissen, das war für ihn ein vorprogrammierter Flop. Den Rest kennt der Kenner der damaligen Szene. Schließlich bezahlte MJL den RIAS und konnte die Bänder selbst veröffentlichen. Beim Anhören sowohl der Doppel- als auch der Einzel-CD befiel mich der spontane Eindruck, dass er zumindest einen Teil der neu eingespielten Titel durch die Originalaufnahmen ersetzt hatte. (Keine Ahnung, ob das stimmt, aber diesem Kerl war ja nun wirklich alles zuzutrauen!*)
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* Auf dieser CD wird das „Los Angeles Ensemble“ als zweiter Klangkörper genannt, das ist der Name eines erst gut zehn Jahre später gegründeten Kammermusik-Ensembles. Vermutlich hat Richard also recht – wobei sich allerdings noch nie ein Filmmusik-Sammler über Originalbänder geärgert haben dürfte …