betr.: 114. Geburtstag von Jean-Louis Barrault (morgen)
Die französische Schauspiel- und Pantomime-Legende Jean-Louis Barrault spricht in ihrer Autobiographie „Erinnerungen für morgen“ (1972) schon im Vorwort vom „inneren Orchester“. Sehr viel später zitiert Barrault einen Kollegen, der das (gesprochene) Wort als einen „Happen Bewusstheit“ definiert, und führt weiter aus:
Unser Körper hat, grob gesehen, vier Energiezentren: Kopf, Bauch, Geschlecht und Nerven. (Immer wieder die Platonische Dreiheit, gekrönt vom Tetraeder: ein von vier Dreiecken begrenzter Körper.) Meistens herrscht eines dieser Zentren über die drei anderen und bestimmt unser Verhalten. Besonders werden die Schwingungsfrequenzen unseres Zwerchfells beeinflusst. Der Atem schlägt an die entsprechenden Stellen unseres verzweigten Höhlensystems von Mund, Nase und Stirnhöhlen. Das wirkt sich hauptsächlich auf den Klang der Vokale aus. Das Leibzentrum leitet den Ton auf die Unterlippe, bei erotischem Verlangen rutscht die Stimme in die Kehle, das Intelligenz-Zentrum führt sie an den Gaumen, und das Nervenzentrum lässt den Ton in Nasen- und Stirnhöhlen vibrieren. Die Stimme ist also nicht nur ein einzelnes Instrument, sondern ein ganzes Orchester. Der Bauch spielt die Posaune, das Geschlecht die Violine, der Kopf ist Holz- und Blechbläser, und die Nerven blasen die hohen Trompeten und Pikkoloflöten oder streichen die singenden Sägen. Selten sagt man im Ton eines Feldwebels „Ich liebe dich“. Und selten kommandiert ein Feldwebel sein „Habt Acht!“ mit belegter Stimme aus der Tiefe der Kehle, wie man „Ich liebe dich“ sagt. Und wenn Ihre Tischnachbarin Ihnen mit einer Stimme aus dem Unterleib ins Ohr haucht: „Würden Sie mir bitte Wein einschenken?“, dann dürfen Sie sich unter dem Tisch getrost ihrem Knie nähern, sie ist Ihnen gewogen. In dieser Verschiebung unserer normalen Sprechstimme in eine von der jeweiligen Situation geprägte Stimme drückt sich unser Verhalten aus. In „Phädra“ spricht Hippolyte zu Aricie über die Staatsräson mit weicher, im Hals steckender Stimme, weil er sie liebt und ihre Gegenwart ihn beeindruckt. Er spricht „tonlos“. Die Diktion auf der Bühne ist die Kunst, die Stimme richtig zu „placieren“.
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* Ach ja, die Franzosen …