Die wiedergefundene Textstelle: Hypnose für Einsteiger

Victor Cannings Originaldrehbuch „Verräter“ (1967 für das ZDF) ist eine Gipfelleistung, die nebenbei ihr illustres Schauspielerensemble sehr gut aussehen lässt. Ihre Qualität wird umso deutlicher, wenn man diesen Dreiteiler mit anderen ähnlich formatierten deutschen TV-Krimis der Ära vergleicht. Die beiden meistbeschäftigten Autoren dieses Komplexes – Francis Durbridge und Herbert Reinecker – werden heute beilläufig als „Kult“ durchgewunken, würden aber jeden von uns intellektuell entsetzlich quälen, der sie sich eine ihrer Arbeiten tatsächlich in voller Länge anschaut. Cannings Buch ist lebensnah und frei von ärgerlichen Klischees, was für eine Spionage-Geschichte damals wie heute beachtlich ist.
Die folgende Szene gehört in die Kategorie „Verwertung einer Recherche in einen Dialog“ – ein unterschätzter handwerklicher Vorgang.*
Die erwähnte Miss Linton ist eine Varieté-Künstlerin, bei der sich Canning möglicherweise von John Buchans „Mr. Memory“ hat inspirieren lassen, einer Schlüsselfigur im von Hitchcock verfilmten Roman „The 39 Steps“. Der Regisseur griff für seinen letzten Film wiederum zu Canning. „The Rainbird Pattern“ gelangte als „Familiengrab“ auf die Leinwand.**

„Was heißt das, sie schläft?“ stieß Tannikov ärgerlich hervor, als er mit Dr. Friedland sein Büro betrat. „Sie sollten sie hypnotisieren, deshalb sind Sie hier!“
Die Herren verteilten sich auf beide Seiten von Tannikovs Schreibtisch, nur Dr. Friedland nimmt Platz.
„Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass kein Mensch gegen seinen Willen hypnotisiert werden kann“, entgegnete Dr. Friedland aufgeräumt. „Außerdem braucht man dazu Ruhe und Konzentration. Glauben Sie, dass Miss Linton besonders ruhig ist, nachdem Sie sie mit Gewalt entführt haben?“
„Und weiter!“
„Es gibt da zwei Erklärungen: entweder sie will sich nicht von mir hypnotisieren lassen, oder sie ist überhaupt nur durch ihren Bruder zu hypnotisieren!“
„Was heißt das?“ fragte Tannikov und setzte sich nun ebenfalls. Seine Verärgerung wich einer berufsmäßigen Neugier.
„Wir nennen das eine Sperre. Wenn Mr. Linton seine Schwester regelmäßig hypnotisiert, dann bedarf es zwischen den beiden nicht jedesmal eines umständlichen neuen Hypnoseversuchs, sondern Linton wird eine Signalhypnose eingerichtet haben. Dabei kann das Signal irgendein X-beliebiger Gegenstand oder irgendein Wort sein, das die beiden miteinander verabredet haben. Sobald Linton den Gegenstand anfasst oder das Wort ausspricht, fällt seine Schwester in Hypnose.“
„Soll das ein Witz sein?“
Friedland schmunzelte. „In Ihrem nächsten Urlaub können Sie mich in meiner Klinik besuchen, dann werde ich Ihnen eine Signalhypnose vorführen. Mein Medium ist ein junger Mann. Wir benutzen ein Stück Kreide. Damit er nun nicht jedesmal in Hypnose fällt, wenn irgendjemand zufällig einmal ein Stück Kreide berührt, habe ich ‚gesperrt‘. Das heißt, ich habe ihm in Hypnose befohlen, dass nur ich ihn hypnotisieren kann. Und Linton wird es mit seiner Schwester ähnlich gemacht haben.“
„Ja, können Sie diese Sperre nicht durchbrechen?“
„Nein. Das ist ja gerade der Sinn einer Sperre, dass man sie nicht durchbrechen kann, oder jedenfalls nur sehr schwer. Man braucht sehr viel Zeit dazu.“
„Na, wie lang?“
„Das kann ich jetzt noch nicht sagen.“
Tannikov erhob sich und kam hinter dem Schreibtisch hervor. „Ich habe Ihnen erklärt, warum ich diese Namen unbedingt brauche. Was schlagen Sie vor?“
„Besorgen Sie sich auch den Bruder! Er wird seine Schwester hypnotisieren, und Sie haben, was Sie brauchen.“
„Das dürfte unmöglich sein.“
„Versuchen Sie’s wenigstens. Oder geben Sie mir die Möglichkeit, mich in aller Ruhe mit Miss Linton zu beschäftigen. Am besten, ich nehme sie mit in meine Klinik.“
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* Roald Dahl ist einer der Meister auf diesem Gebiet, siehe https://blog.montyarnold.com/2021/11/23/roald-dahl-2/
** Siehe https://blog.montyarnold.com/2018/08/05/die-schoensten-filme-die-ich-kenne-72-familiengrab-2/ und https://blog.montyarnold.com/2024/03/11/aus-dem-schoss-der-familie-gekrochen/

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