Der Mythos „Dummes Fernsehen“

Mit diesem Ausdruck bezeichnete man in den Nullerjahren, nachdem Formate wie „The Sopranos“ eine „epische“ Erzählweise auf dem Bildschirm eingeläutet und etwas voreilig ein ganz neues Niveau verheißen hatten, die alte Art, im Fernsehen seriell zu erzählen. Der sachlichere Anglizismus lautet „procedurials“: eine abgeschlossene Geschichte pro Folge, ein gleichbleibendes Ensemble in feststehenden Verhältnissen, und am Ende eines Abenteuers ist alles immer wieder so wie zu Beginn. Das war plötzlich out, wenn auch das neue Konzept nichts Neues war: Mehrteiler („Miniserien“) sowie die Ende der 70er Jahre auch bei uns prosperierenden sogenannten Seifenopern aus den USA hatten bereits früher eine durchgehende dramatische Handlung besessen, die sich über Jahre strecken konnte und das Versäumen einzelner Episoden zu einem Problem machte. Als dritte Variante gab es gelegentlich anthologische Formate mit ganz neuen Sets und Figuren je Ausgabe oder später die staffelweise Neuformatierung, etwa bei „True Detective“ oder „American Horror Story“.

Schnell kam das Gerücht auf: „Die Prestigeserien waren  nie so schlau wie die Fans es gern gehabt hätten (sie sahen nur besser aus und es wurde mehr geflucht)“ (Nele Pollatschek in der „Zeit“).
Inzwischen gibt es erste Vermittlungsversuche zwischen den Konzepten, denn sie alle haben etwas für sich. Bricht man die Lanze in umgekehrter Knickrichtung heißt das: „Manchmal behaupten Serienkenner, dass das Fernsehen jetzt dank der Streaminganbieter mit ihren Algorithmen wieder so dumm werden würde, wie es einmal war. Auch das ist falsch. Zu sagen, modernes Fernsehen sei schlecht, ist, als würde jemand im Jahr 2012 behaupten, dass niemand mehr gute Telegramme schreibt.“

Die Oneshot-Struktur der klassischen TV-Serien bot und bietet andere Möglichkeiten und verfolgt andere Absichten. Pollatschek: „Wer Woche für Woche die selbe Geschichte erzählt ([etwa] „Anwälte verhandeln einen Fall“), muss sich ständig überlegen, welche Komplexität man noch ausleuchten kann, muss die Story ständig anreichern mit Gedanken, denn die sind nicht nur frei, sondern kosten vor allem auch nichts. (…) Und da das Geld fehlt, um alles mit grandiosen Bildern aufzuhübschen, (…) müssen die Dialoge und Monologe so komisch, so überraschend, so rührend und so klug sein, dass sie allein die Zuschauer an den Fernseher fesseln.“

Ein kleines Budget diszipliniert also. Was hat der Konsument sonst noch davon? Er muss sich nicht monatelang an eine Serie binden (was viele vor der „modernen Serie“ zurückschrecken lässt). Er kann sich einzelne Lieblingsfolgen wieder und wieder ansehen, unabhängig vom Gesamtwerk. Er kann sich über Specials freuen (die „Steinzeit-Folge“, die „Musical-Folge“, die vielen Halloween- und Weihnachtsspecials …). Er kann sich vereinzelt auf eine ganz andere Grundstimmung einlassen – etwa auf besonders finstere, wagemutige, inhaltlich anspruchsvolle oder ungewohnt komödiantische Folgen. Für Letzteres ist das „Raumschiff Enterprise“-Abenteuer „Kennen Sie Tribbles?“ ein besonders gutes Beispiel. Aus diesem Blickwinkel ist es der „lange Atem“ der Erzählung, der die Autoren und ihre Geschöpfe einengt. Ein Problem hatten die Serienmacher des „Golden Age Of Television“ nicht: die Ungnade des Publikums bei einem plötzlichen Ende. Wird eine Fortsetzungsgeschichte unerwartet abgesetzt und die Storyline nicht befriedigend zuende gebracht, werden in der Regel auch die vielversprechenden Anfänge von den liebenden Fans verworfen.
Man stelle sich – wiederum – vor, das wäre nach dem Aus für „Raumschiff Enterprise“ nach der dritten Staffel passiert. Für den Sender war die Sache damit erledigt. Für die Fans ging mit diesem Ärger der Spaß erst richtig los.

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