Zur Geschichte des Drehbuchs

„Drehbuch = das Notieren einer Geschichte zum Zwecke ihrer Verfilmung“ (Wolfgang Kohlhaase)

Anfang des 20. Jahrhunderts waren Motion Pictures noch keine Kunstform, sondern eine Kuriosität, eine Jahrmarktsattraktion. Die Filme waren kurz und eines Inhalts wie „Baby lernt laufen“ oder „Der Kraftmensch“. Ab 1902 wurden solche Spektakelchen in den USA „Movies“ genannt. 1909 wird erstmals ein Film als „Photoplay“ bezeichnet, was darauf verweist, dass er eine richtige (dramatische) Handlung hat. Damit erwacht das Bedürfnis nach einem Schriftstück, das diese Handlung zuvor festlegt und der Herstellung des Films eine Struktur gibt. Im Jahre 1911 wird dafür die Bezeichnung „Scenario“ geprägt, 1916 erstmals von einem „Screenplay“ gesprochen.
Zu dieser Zeit gibt es bereits erste Fachbücher, die erklären, wie man ein Drehbuch schreibt. Herbert Case Hoagland ist in „How To Write A Photoplay“ noch der Meinung, das Verfassen eines Drehbuchs erfordere kein besonderes Geschick als Autor, da man ja keine Dialoge schreiben müsse. Im Stummfilm nahm das Entwickeln einer Geschichte und die Verteilung der Szenen im Hinblick auf den Wechsel der Filmrollen im Projektor tatsächlich einen größeren Raum ein. (Auch auf den Texttafeln des Stummfilms gibt es freilich schon gelegentlichen Dialogwitz.) Der übliche Tarif für ein Drehbuch lag bei etwa 25 Dollar.

Mit dem Tonfilm wurde die Bedeutung des Drehbuchs obligatorisch. Billy Wilder, der in Berlin in den letzten Tagen des Stummfilms als Drehbuchautor begann, in dieser Funktion in Hollywood seinen Weg machte und als Regisseur immer auch sein eigener Drehbuch-Co-Autor blieb, brachte es auf den Punkt, ein Film ohne gutes Drehbuch könne niemals ein guter Film sein.
Im damaligen Hollywooder Studiosystem waren für die Ausfertigung der Drehbücher eigene Abteilungen zuständig, die eher dem Produzenten als dem Regisseur unterstellt waren. In Frankreich, dem Geburtsland des Kinos, sah die reguläre Arbeitsteilung vor, dass Handlungsverlauf und Dialoge von unterschiedlichen Autoren betreut wurden. Inzwischen hat die komplizierte Art, wie Filme finanziert werden, dazu geführt, dass an der Entstehung eines Drehbuchs für einen gewöhnlichen kommerziellen Film mindestens ein Dutzend Leute beteiligt ist. Das macht die Entstehung eines wirklich guten Drehbuchs im Wilder’schen Sinne unmöglich. Die Regie ist hauptsächlich damit beschäftigt, die unvermeidlichen faulen Kompromisse zu kaschieren (wofür ihr ein nie dagewesenes Arsenal an optischen Tricks zur Verfügung steht). Dass diese Kompromisse sich untereinander so ähnlich sind, hat einen weiteren Grund. Er heißt „Screenplay. The Foundations Of Screenwriting“. 1979 war ein gewisser Syd Field (1935-2013) in die Fußstapfen solcher Pioniere wie Herbert Case Hoagland getreten. Sein „Handbuch zum Drehbuch“ war das erste einer inzwischen beträchtlichen Menge vergleichbarer Produkte, in denen im Wesentlich immer dasselbe erklärt wird. Zunächst war Fields Buch ein pfiffiges Gedankenspiel, das auswertete, welche (noch unausgesprochenen) Gesetze bisher bei der Herstellung und Vermarktung erfolgreicher (und also: gelungener) Filmkunstwerke auszumachen sind. Der Erfolg dieses Buches beruhte darauf, dass es auch für Kinogänger attraktiv war. Laien freuten sich nun, mit Begriffen wie „Plot Point“ oder „Parallelmontage“ angeben zu können, doch der Effekt, den das Buch auf die Branche hatte war weitaus bedeutsamer. Die Filmindustrie sah darin einen Leitfaden, wie man es künftig immer anstellen sollte, wenn man nicht leichtfertig einen Misserfolg riskieren wollte.
Field wurde zum Guru, eine immer größere Gemeinde betete seine Lehren nach und freute sich über Fields wichtigste Botschaft, das Versprechen: „Das kannste auch!“. Acht der unzähligen Nachzügler seines Buches schrieb Field gleich selbst. Auch wer gar nichts von der Sache verstand, konnte nun Regeln nachbeten, sich auf sie berufen und in Geldgeberkonferenzen das Produkt eines Profis mit „ausdiskutieren“.
Das langfristige Ergebnis dieses „Handbuchs“ war eine Formatierung der Filmkunst, die Auswirkungen für ihr kreatives Potenzial sind verheerend.
Dass Serien zurzeit so viel beliebter sind, hängt zu einem erheblichen Teil damit zusammen, dass sich manche ungebührliche Einmischungen unter dem Regiment eines Showrunners nicht durchführen lassen und dass Vorschriften wie die, eine Geschichte müsse 90 Minuten dauern, an einer bestimmten Stelle ihren Wendepunkt haben u. ä., in der „epischen Erzählweise“ von selbst auflösen.

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