Das Gegenteil von Einsamkeit

betr.: 40. Todestag von Truman Capote

Sein berühmter, etwa gleichaltriger Kollege Norman Mailer nannte Truman Capote den „vollkommensten Stilisten seiner Generation“. Der Neid seines kurzzeitigen Freundes und ewigen Gegenparts Gore Vidal, der bis lange nach Capotes Tod immer wieder eifrig und ungefragt zum Ausdruck gebracht wurde, ist vielleicht ein noch größeres Kompliment.
Zwei Kurzgeschichten sind geeignet, sich ein Bild von den Fähigkeiten des großen Erzählers zu machen.

„Miriam“ erzählt von der alten New Yorker Witwe Mrs. Miller, die an einem verschneiten Tag ins Kino geht. Ein forsches kleines Mädchen, das ein feines Gespür für die Einsamkeit der Dame hat, bringt sie dazu, sie zur Vorstellung einzuladen. Mrs. Millers Dankbarkeit für die diese Ablenkung wandelt sich bald zur Sorge, das Kind nicht wieder loszuwerden. Bald steht Miriam vor ihrer Tür, kommt herein und schlägt einen zunehmend dreisten Ton an. Die alte Dame weiß sich keinen Rat, als ihre Nachbarn zu Hilfe zu rufen – doch die finden ihre Wohnung leer. Die Nachbarn gehen mit dem Gefühl, die gute Frau sei nicht ganz bei Trost.
Aber Miriam bleibt nicht lange verschwunden …

Ich teile den Eindruck der Allgemeinheit (und der Jury des O. Henry-Preises), dass es sich bei „Miriam“ um einen Geniestreich handelt.
Auch die Kurzgeschichte „Baum der Nacht“ hat es weit gebracht, ist sie doch Titelgeberin für die eine oder andere Capote-Sammlung, darunter eine, die alle seine Kurzgeschichten enthält. Wie „Miriam“ spielt auch dieser Text mit unserer Angst vor Überrumpelung, vor einer Distanzlosigkeit, der wir im entscheidenden Moment nicht gewachsen sind.

Wieder ist es Winter. Diesmal ist unsere Identifikationsfigur ein junges Mädchen namens Kay, das in einer ländlichen Gegend allein mit dem Zug unterwegs ist. Der letzte freie Sitzplatz bringt sie in Kontakt mit einem skurrilen Paar älterer Herrschaften. Der Mann sagt nichts, die Frau redet umso intensiver auf Kay ein, erzählt ihr von ihrer Arbeit als Schaustellerin und drängt das Mädchen, mit ihr gemeinsam zu trinken. Höflich und eingeschüchtert wie sie ist, gibt Kay schließlich nach …

Einsamkeit ist ein Problem unserer Gesellschaft, über das immer häufiger geklagt und geschrieben wird. Seit der Pandemie sind immer mehr junge Leute davon betroffen.
Capotes Erzählungen erinnern uns daran, dass die Möglichkeit des Einzelnen, allein zu sein, eine Errungenschaft darstellt, einen Luxus, um den sich unsere Vorfahren lange bemüht haben. Doch diese Freiheit will ausgefüllt sein.

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