Missverständnisse und wuchernde Anekdoten

betr.: kleine Rezensionskritik

Beim Thema Hitchcock kann ich nie stillhalten. Daher juckt es mich, die „ZEIT“-Kritik des Buches „Eine Liebe für’s Leben: Alma und Alfred Hitchcock“ von Thilo Wydra zu kommentieren. Das besprochene Buch würdigt die immensen Verdienste von Hitchcocks Ehefrau (einer Kollegin vom Fach) bei der Entstehung seiner sämtlichen Filme. Das ist ein Thema, bei dem man sich nur wundern kann, dass es nicht längst in einem eigenen Buch behandelt wurde. Der Regisseur selbst hat ja nie ein Geheimnis aus diesem Aspekt gemacht.

Am Anfang der Rezension heißt es: „Auch nachdem man den Film ‚Der unsichtbare Dritte‘ mehrmals gesehen hat, ist es schier unmöglich, den Plot nachzuerzählen. Cary Grant in seiner Rolle als Roger Thornhill wurde gejagt, aber warum eigentlich?“ Na ganz einfach: weil er durch einen dummen Zufall beim Versuch, von einem Hotelfoyer aus zu telefonieren, von den Bösewichtern für einen Mann gehalten wird, der gar nicht existiert, sondern nur von der Abwehr erfunden wurde. Deshalb ist es Thornhill / Grant auch unmöglich, die Herren von seiner Unschuld zu überzeugen.
In einer für Hitchcocks Verhältnisse überdeutlichen Weise wird uns das sogar ausführlich von den Agenten erklärt – in einer Szene, bei der ich in diesem sonst makellos vergnüglichen Thriller immer etwas unbehaglich im Sessel versinke.
Die Rezensentin ist hier möglicherweise von der oft kolportierten Anekdote genarrt worden, nach der Cary Grant während des Drehs zu Hitch gesagt haben soll: „Das ist ein ganz schreckliches Drehbuch. Jetzt arbeiten wir schon seit Wochen an diesem Film, und ich weiß immer noch nicht, worum es geht.“
Spätestens nach der Premiere hatte sich dieser Einwand mit Sicherheit erledigt.

Etwas herzlos finde ich die Passage: „Wydra beginnt mit den Filmanfängen in England Anfang des 20. Jahrhunderts (…). Diese Gründlichkeit mag für Cineasten attraktiv sein, für den filminteressierten Laien hätte es dieser Gründlichkeit vielleicht nicht bedurft, denn die englischen Filme, darunter viele Melodramen, sind heute größtenteils vergessen.“ Es waren nicht „größtenteils Melodramen“ (und selbst wenn?), sondern ein erstaunlich reichhaltiges Repertoire der unterschiedlichsten Genres und Gemütslagen, das Hitchcock in seiner englischen Phase hervorbrachte (das überdies einige so brillante Filme enthielt, dass man ihn nach Hollywood rief). Wer genauer hinschaut, staunt über dessen Ausgewogenheit und beginnt zu begreifen, wie gut sie den späteren Alleskönner auf seine Karriere vorbereitet hat.
Mit dem Vergessenwerden trifft die Rezensentin wiederum tiefer ins Schwarze als sie vermutlich ahnt: die Stummfilmzeit wird ja inzwischen nicht einmal mehr an Filmhochschulen als unterrichtswürdiger historischer Abschnitt betrachtet, wie mir Insider berichten. Für mich ist das in einem einschlägigen Fachbuch wie diesem ein Grund mehr, darauf einzugehen.

Der Schluss des Artikels ist ein wenig missverständlich – zumindest für die befürchteten „filminteressierten Laien“. Almas Entdeckung, dass Janet Leigh nach ihrer Ermordung unter der Dusche noch geschluckt habe, musste nicht stur verteidigt und durchgesetzt werden. Einen solchen Fehler hätte Hitchcock gewiss nicht durchgelassen, nachdem man ihn darauf aufmerksam gemacht hat. Die besagte Anekdote hat er außerdem selbst immer gern erzählt (wenn er sie nicht ohnehin erfunden hat).
Da wir gerade dabei sind (und unabhängig von Wydras Buch): in Sacha Gervasis gründlich versemmeltem Biopic „Hitchcock“ wird der Eindruck erweckt, Alma sei sogar zum Set gefahren, um ihren Mann im Regiestuhl zu vertreten. Das ist genausolcher Mist wie die Gummimaske, die Anthony Hopkins trägt und die dazu führt, dass er weder sich selbst noch Alfred Hitchcock ähnlich sieht. Die Überschrift des Artikels „Wer hat ‚Psycho‘ erschaffen?“ lässt mich befürchten, dass der Rezensentin Gervasis Film gefallen haben könnte.  

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