Lesen vom Blatt / Sprechen am Mikrofon
Fortsetzung vom 4.12.2024
Wie entscheidend der Subtext ist und wie verheerend die Folgen, wenn er bei der Lesung außer Acht gelassen wird, mag das 10. Kapitel aus einem meiner Lieblings-Übungsbücher veranschaulichen: „Mord im Spiegel“ von Agatha Christie (nachlässig verfilmt in den frühen 80er Jahren).
Der Dialog spielt sich zwischen Mr. Rudd (einem Zeugen und potenziellen Verdächtigen) und Inspektor Craddock ab. Die Unterhaltung verläuft nach den üblichen Gesetzen des Plüschkrimis: die Sprechenden leben in Frieden und Wohlstand, so etwas wie Stress gibt es gar nicht, die Umgebung ist ländlich und wiederum wohlhabend. Obwohl es um eine Mordermittlung geht, ist die Stimmung von heiterer Gelassenheit. Erstens, weil das Unglück hier nicht als solches, sondern unter rein analytischen Gesichtspunkten erörtert wird („Warten Sie mal, Herr Kommissar, ich versuche, mich genau zu erinnern, was der Reihe nach geschah …“). Zweitens weil in der altmodisch-gemütlichen Welt von Agatha Christies „Countryside“ ja ein Mord insgesamt nichts Ungewöhnliches ist.
Lesen wir den Dialog nun ein zweites Mal, ändern aber den Kontext (und damit: den Subtext). Aus einer inoffiziellen Befragung machen wir einen Prozess. Wir stellen uns vor, der Fragende wäre ein Staatsanwalt – etwa in „Zeugin der Anklage“ von derselben Autorin (einmal famos fürs Kino, noch einmal starbesetzt, aber vermurkst fürs Fernsehen verfilmt). Mr. Rudd würde nun im Zeugenstand befragt werden.
Was bleibt gleich?
Hier wie dort werden die Ereignisse aus der Distanz nachträglich betrachteter Fakten behandelt, die sich nicht mehr ändern lassen. Aber diesmal geschieht das alles vor Publikum, und besonders der Staatsanwalt wird unentwegt auf seine Wirkung achten mit dem Publikum flirten (zu dem auch die Betrachter des Gerichtsfilms gehören).
Der Effekt lässt sich besonders gut imaginieren, wenn wir die Rede des Fragestellers mit Einschüben würzen wie „My Lords and Ladies, verehrte Geschworene“ oder „Hohes Gericht!“.
