betr.: 106. Todestag von Bram Stoker
Noch vor 200 Jahren war Transsylvanien* ein weißer Fleck auf der europäischen Landkarte. Das verblüfft, wenn man bedenkt, dass wir uns heute für weitaus länger zurückliegende der dortigen Ereignisse interessieren. Der erste Bericht in englischer Sprache, in dem Geschichte und Bevölkerung Transsylvaniens thematisiert werden, war 1820 „An Account Of The Principalities Of Wallachia And Moldavia“ von William Wilkinson. 1849 machte Alexandre Dumas d. Ä. diesen Landstrich in „La Dame pâle“ erstmals zum Schauplatz finsterer Vorgänge in der Belletristik.
Es war jedoch der irische Verwaltungsangestellte und Theaterdirektor Bram Stoker, der Transsylvanien dauerhaft zum Synonym für den Ursprungsort des Bösen an sich werden ließ. Sein „Dracula“ verweist auf eine historische Figur: 1431 wird der rumänische Adlige Vlad zum neuen Woiwoden (Fürsten) der Walachei gemacht und zum Ritter des Drachenordens geschlagen. Daher führt er nun den Beinamen Dracul (Drache), der im Rumänischen sogar „Teufel“ bedeutet. Erst sein zweiter Sohn Vlad Draculea wird diesem Namen wirklich Ehre machen. 1456 wird Draculea zum Woiwoden der Walachei, im folgenden Jahr legt er sich den Beinamen Tepes (sprich Zepesch) zu; das bedeutet „der Pfähler“ und ist kein leeres Versprechen. Im Rahmen eines Handelskrieges mit Siebenbürgen lässt er 600 (also sämtliche) Kaufleute aufspießen. Zu den zahllosen folgenden Schreckenstaten zählt auch ein Oster-Massaker, das als Vorbild für die „rote Hochzeit“ in „Game Of Thrones“ gedient haben könnte.
1897 erscheint der Roman „Dracula Or The Un-Dead“ von Bram Stoker, der sogleich auch auf die Bühne gebracht wird. (Es ist das 13. Werk des Autors, die vorherigen haben kein Aufsehen erregt.) Aus dem historischen Schlächter wird ein untoter Blutsauger gemacht.
Bei H. P. Lovecraft finden sich zwei Belege für die ohnehin naheliegende Annahme, dass dieser „Dracula“ gelesen hatte. Zunächst einmal lässt Lovecraft im 1927 verfassten Kurzroman „Der Fall Charles Dexter Ward“ einen Vorfahren seines Helden schon 1750 einen Freund in Transsylvanien erwähnen (zu einer Zeit also, da die wenigsten Amerikaner mit diesem osteuropäischen Gebiet etwas anfangen konnten). Dann lässt er seinen Titelhelden Einzelheiten zu dieser Verbindung recherchieren und selbst nach Transsylvanien reisen.
Charles Dexter Wards Besuch beim Baron Ferenczy in den Bergen östlich von Racu im zu den Karpaten gehörenden Harghita-Gebirge „weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Besuch Jonathan Harkers bei dem transsilvanischen Woiwoden Dracula auf“, stellte Leslie S. Klinger** fest. „Draculas Schloss liegt in der Nähe von Bistrita, etwa 120 Kilometer westlich von Racu. Sowohl Baron Ferenczy als auch Dracula residieren auf einem abgelegenen Schloss, sind bei ihren Nachbarn äußerst unbeliebt und von hohem Alter. Beide schicken ihre Kutschen, um ihren jeweiligen Gast abzuholen“. (Vom historischen Draculea ist ein solcher Standort nicht überliefert.)
Freilich ist diese Begegnung bei Lovecraft nur ein winziges Detail in einem hochkomplizierten Fall, der sich wie ein Tatsachenbericht liest.
Eine noch weitaus effektvollere Passage lässt den Leser an „Das Bildnis des Dorian Gray“ denken. Dessen Autor Oscar Wilde wird von Lovecraft im „Charles Dexter Ward“ sogar erwähnt. Er vergleicht die Obskurität, in die der schon erwähnte Vorfahr Joseph Curwen von der Gesellschaft gestoßen wurde, mit der Art „wie Oscar Wildes Name ein Jahrzehnt lang totgeschwiegen wurde, nachdem er in Ungnade gefallen war“. Dass dieser Curwen möglicherweise mit finsteren Mächten im Bunde stand, wollten seine Mitbürger u. a. daran erkannt haben, dass er nicht sichtbar alterte. Bei seinen Recherchen zum Leben seines Ahnen stößt Charles Dexter Ward auf ein übermaltes Portrait dieses Curwen, das er mühevoll freilegen lässt und dann in seinem Arbeitszimmer aufhängt. Das Bildnis ähnelt Ward in beunruhigender Weise, und seine Blicke scheinen dessen Bewegungen im Raum zu folgen. Mehr und mehr scheint der Mann auf dem Bild von Ward Besitz zu ergreifen. Als diese Entwicklung in ein gewisses Stadium getreten ist, geschieht es: „Von der Holzunterlage sich abschälend, enger und enger sich zusammenrollend und schließlich mit einer boshaften Plötzlichkeit in kleine Stückchen zerbröckelnd, hatte das Portrait des Joseph Curwen seinen Posten (…) aufgegeben und lag jetzt als eine dünne Schicht feinen, blaugrauen Staubes verstreut auf dem Boden.“
So subtil der Wiederhall seiner Leseerlebnisse in Lovecrafts Arbeit war, so pochte und zirpte auch er in den Arbeiten jüngerer Erzähler weiter.
Zu den zahlreichen Brieffreundschaften, die H. P. Lovecraft unterhielt, zählt auch ein vierjähriger Dialog mit einem jungen Fan, der ihm später nachfolgen sollte. Robert Bloch begann als Siebzehnjähriger, mit Lovecraft zu korrespondieren, die beiden sind sich jedoch niemals begegnet. Bloch hat ihm später einen ganzen Roman gewidmet, und in seiner populärsten Erzählung lässt sich ein leises Echo aus „Der Fall Charles Dexter Ward“ vernehmen. In „Psycho“ gibt es die beeindruckenden Dialoge zwischen Norman Bates und seiner Mutter, die wir mit anhören, ohne die Sprechenden sehen zu können. Alfred Hitchcock übernimmt diesen Effekt in seine Filmversion von „Psycho“. Er weicht also von seiner markanten Gewohnheit ab, dem Zuschauer einen Wissensvorsprung zu geben. Wir sind von der späten Enthüllung, dass die geifernden Wortgefechte aus dem Munde einer einzigen Person gekommen sind, ebenso überrascht wie die handelnden Personen.
Auch in „Der Fall Charles Dexter Ward“ gleitet ein junger Mann in den Wahnsinn (bzw. in eine Besessenheit) ab und irritiert die Lauscher mit unerklärlicher Vielstimmigkeit hinter der verschlossenen Tür seines Zimmers. Auch hier ist die Unterhaltung bewegt und verstörend (wenn auch meist unverständlich). Damit hören die Querverweise aber auch auf. Bloch orientierte sich bei „Psycho“ bekanntlich an einem Kannibalen aus Wisconsin.***
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* Am Ende des Ersten Weltkriegs erklärte Rumänien Ungarn den Krieg und verleibte sich Transsylvanien ein, das ihm im Versailler Vertrag vom Juli 1919 zugesprochen wurde. Im August 1940 wurde der nördliche Teil Transsylvaniens erneut an Ungarn angeschlossen, fiel jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg im Vertrag von Paris wieder an Rumänien.
** Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2018/03/15/aus-der-finsternis/
*** Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2014/12/29/ruebe-runter-mit-musik/