Zu früh aus dem Ofen genommen (2)

Von Elend und Größe der zeitgenössischen Chanson-Szene

Fortsetzung vom 27.5.2022

Und warum ist das so?
Es hängt natürlich mit der Selbstbeschränkung zusammen, die unsere Kleinkunstbranche befallen hat. Sie beruht auf der irrigen Annahme, der Inspiration nicht zu bedürfen – und der Vorbildung schon gar nicht.
Beispielhaft sind in diesem Zusammenhang die entlarvenden Gespräche in Rundfunksendungen wie „Querköpfe“. Eine junge Kollegin meinte einmal, sie hätte ein eigenes Genre erfunden. Sie mache „Kabason“. Das wäre so eine Mischung aus Kabarett und Lied.
So etwas wäre früher als Witz gedacht gewesen, aber sie meinte das tatsächlich ernst.

Die Selbstauskünfte arrivierter Kollegen fallen nicht erfreulicher aus. Eine nicht unbedeutende Chansonniere (sie bezeichnete sich als „Chansonette“*) wurde kürzlich in  der selben Reihe nach den Autoren gefragt, die sie inspiriert hätten – nachdem sie erklärt hatte, ihr ginge es hauptsächlich um die Texte. Sie antwortete: „Brecht! …“ (Pause) „… und Eisler und Weill …“, um nach kurzem Zögern zu ergänzen, na gut, das seien ja Komponisten. Weitere Autoren sind ihr nicht mal dem Namen nach eingefallen, und die Moderatorin sprach lieber von etwas anderem. (Sie war so nett, nicht nachzufragen, wie dieser Brecht mit Vornamen heißt. Das wäre wirklich lustig geworden.)
Diese Leute wissen gar nicht, welches Vergnügen ihnen entgeht.
Kürzlich sah ich mir das vierstündige (!) Gespräch an, das Horst Königstein 1988 mit der greisen Blandine Ebinger führte. Für diese NDR-Produktion wurde eine wirkungsvolle Kulisse ins Studio gebaut, in der Frau Ebinger mit kompetenter Begleitung (und in passenden Fummeln) alte Chansons zum Besten gab. Besonders bei den Beiträgen aus Walter Mehrings „Großem Ketzerbrevier“ blieb mir die Spucke weg. Ganz besonders bei „Wenn wir Stadtbahn fahren“.
________________
* Chansonette = kleines Lied.

Dieser Beitrag wurde unter Chanson, Hörfunk abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert