Für’s selbe Geld

„Ich bin ein alter Mann und habe viel Furchtbares erlebt, aber das meiste davon ist nicht passiert.“
Dieses Zitat von Mark Twain habe ich, als ich es in einem Interview antraf, so verstanden: Neben allem, was mir Furchtbares widerfahren ist, gibt es zum Glück vieles (vielleicht noch Schlimmeres), was ich nicht erleben musste. Anders gesagt: vergleicht euch nicht nur mit denen, die es besser haben, sondern freut euch über das, was euch im Gegensatz zu euren Mitmenschen erspart geblieben ist.
Dann las ich weiter und stellte fest, dass die beiden Dialogpartner dieses Zitat anders auslegten als ich: „Dass man sich Geschichten aus seinem Leben erzählt, von denen man gar nicht mehr weiß, ob sie wirklich so stattgefunden haben …“
Die Formulierung ist tatsächlich etwas zweideutig (obwohl ich „das meiste davon ist gar nicht wirklich passiert“ geschrieben hätte, wenn ich es so gemeint hätte wie die Herren im Interview.)

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In der Archäologie und anderswo

betr.: Aneignung / koloniale Vergangenheit / Rassismus / Wokeism etc.

Joseph Conrad gehört zu den ersten Schriftstellern, die in ihren Werken den Kolonialismus angeprangert und sich zum Fürsprecher der Ausgebeuteten gemacht haben. Das bewahrt ihn nicht davor, heute für das Gegenteil beschimpft, gecancelt oder boykottiert zu werden.
Tilman Spengler schildert diesen Widersinn am Beispiel von Conrads heute berühmtestem Roman:

Für Chinua Achebe, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, war Joseph Conrad ein klassischer Rassist, der, gerade in „Das Herz der Finsternis“, die am Ufer des Kongo lebende afrikanische Bevölkerung „entpersonalisierte“, sie nur als eine diffuse Erscheinung von Gliedmaßen, schimmernden Augäpfeln und zuckenden Bewegungen wahrnahm. Es ist wohl wahr, dass Conrad keinen Schwarzen als Helden herausgestellt hat. Das wäre allerdings auch nicht ganz einfach gewesen in einer Erzählung, deren Thema die Ausbeutung, die Unterdrückung, die Versklavung der einheimischen Bevölkerung ist. Und dass Conrad nicht über die einheimischen Sklavenhändler schrieb, die oft eine veritable Machtstellung erlangten, hätte ihm ganz gewiss auch Chinua Achebe nicht vorgeworfen.

Auf die Schwierigkeit, in diesem Zusammenhang die richtigen Worte zu wählen, weist der Leiter der archäologischen Stätte von Pompeji, Daniel Zuchtriegel,  in der „Wochentaz“ vom 20.-26.4. hin:

Der Begriff Sklave gilt als umstritten. Ist die postkoloniale Debatte in der Archäologie angekommen?
Langsam, ja. Die Diskussion um den Begriff „Sklave“ ist dabei nicht so hilfreich. Postkoloniale Kritik in der Archäologie bedeutet, die Strukturen eines Herrschaftsdiskurses in der Antike aufzudecken. Wenn wir heute von Menschen sprechen, deren Vorfahren, vielleicht in der dritten, vierten, fünften Generation, also noch nicht so lange her aus archäologischer Sicht, tatsächlich von Sklaverei betroffen waren, dann ist es verständlich zu sagen: Das Wort reduziert die Menschen auf diesen Aspekt ihres Daseins. In der Antike verhält es sich völlig anders, da sind eigentlich wir die Sklaven.

Wie meinen Sie das?

Die Sklaven der Römer kamen aus dem heutigen Deutschland, Frankreich, Großbritannien. Es wäre eine Gelegenheit, die eigene Wahrnehmung in Frage zu stellen. Dieser rassistische Komplex zwischen Sklaverei, Rassismus, Kolonialismus, der in der Moderne so prägend ist und der es problematisch macht, das Wort Sklave zu verwenden, könnte dadurch unterwandert werden, dass wir für die Antike an dem Begriff festhalten. Wenn wir uns klarmachen: Die berühmten Wurzeln der abendländischen Kultur waren auch das. Wir waren Sklavenbesitzer, aber auch Sklaven, und unsere Kultur kommt aus einer Gesellschaft, die bis zu einem Drittel der Bevölkerung aus Sklaven bestand.

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Das Hitchcock-Quiz

betr.: 24. Todestag von Alfred Hitchcock

In welchen drei Filmen tritt Hitchcock als Musiker auf?

Welchen Beruf übt der Krawattenmörder aus?

Was wird auf dem Feld angebaut, in dem sich Cary Grant vor dem Doppeldecker versteckt?

Welcher Schauspieler hat am häufigsten unter Hitchcocks Regie vor der Kamera gestanden?

Wer hat nach Bernard Herrmann die meisten Soundtracks für einen Hitchcock-Film komponiert?

Auf welchen von Hitchcocks Filmtiteln bezieht sich Mel Brooks‚ Parodie?

Auf welchen von Hitchcocks Filmen spielt Mel Brooks‘ Parodie inhaltlich besonders an?

Auflösung am 4. Mai

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Der Sprachbeschützer

betr.: 150. Geburtstag von Karl Kraus

Der Wiener Schriftsteller und Essayist Richard Schuberth hat 2016 anlässlich des 80. Todestages von Karl Kraus in einem Essay darüber nachgedacht, wie der heute agieren und wie er heute aufgenommen würde. Wäre Kraus heute gar Blogger oder Influencer?
Aus diesem unvermindert erhellenden Buch mit den Titel „Karl Kraus: 30 und drei Anstiftungen“ sowie aus einigen Kraus-Zitaten, die kursiv gesetzt sind, hat der ORF folgende Collage destilliert.

Worin, fragt sich die gebildete Öffentlichkeit bei jedem Karl-Kraus-Jubiläum, bestünde heute die Aktualität des Herausgebers der „Fackel“?
Dort wo sie es am wenigsten vermuten würde: in der Sprachkritik.
Nicht in der Kritik von Grammatikfehlern. Nicht mal in der doofen Masseneindeutschung englischer Wörter, denn siehe da: 1923 schreibt Kraus selber von der „ausgepowerten“ Sprache. Nein, dort wo, wie Walter Benjamin schrieb, der Sprache das Warenzeichen aufgeprägt wird, in der Phrase. Dort wo sich Gedankenlosigkeit und Konformismus „hip“ vorkommen können, dort wo Germanisten schreiben, es gäbe „noch Luft nach oben“, wo Politiker „Am Ende des Tages“ sagen und wo Sensitivity Readers es nicht schicklich finden, wenn Plantagenaufseher in Romanen des 19. Jahrhunderts schwarze Sklaven, die sie zu Tode prügeln, mit dem „N-Wort“ ansprechen und nicht mit Begriffen, die ihrer Menschenwürde entsprechen.
Man weiß es nicht, denn Karl Kraus lebt nicht mehr.
Eines ist jedoch so sicher wie die Schwerkraft und unser aller Tod: dass die, die mit dem toten Kraus ihr publizistisches Selfie machen, den lebenden Kraus am heftigsten hassten. Und er sie dermaßen beleidigen würde, dass die Nachricht seines Unfalltodes oder dass er von Neonazis zerrissen wurde, ein kollektives Seufzen der Erleichterung durch die Redaktionen und Homeoffices dröhnen ließe.

Die Schwäche sieht sich im Spiegel und wirft ihn wütend nach mir und hofft, nun werde es mein Bild sein weil mich der Spiegel getroffen hat.
Die von mir gekränkte Zeit nimmt das nächste Wort, das ihr zur Hand, als Wurfgeschoss. Mir hat noch nie ein anderes Echo geantwortet als der unartikulierte Aufschrei.

Aber vermutlich wäre Karl Kraus eine zweiundzwanzigjährige, verdammt gutaussehende aber dennoch unangepasste TikTok-Influencerin, die ihre verdiente Kolumne in der Hochkultur verziehen bekommt und der man als „Europe‘s Next Top Nonkonformist“ die Spiegel-Bestseller-Schleife bereits umhängt bevor sie ihr irrsinnig wichtiges und kompromissloses erstes Buch veröffentlicht hat.

Ich habe mich im Laufe der Jahre zum Streber nach gesellschaftlichen Nachteilen entwickelt. Ich lauere, spüre, jage, wo ich eine Bekanntschaft abstoßen, eine einflussreiche Verbindung verlieren könnte. Vielleicht bring ich’s doch noch zu einer Position.

Angesagt bleibt, was eingängig ist und den jeweils eigenen Verblendungsgrad spiegelt. Öd ist, was einem zu viel abverlangt.
Was früher Medien- und Kulturbetrieb erledigen mussten, mit mühseligen Verleumdungs- und Totschweigekampagnen, erledigt die kritische Verschubmasse nun selbst in Form eines elektronischen Ostrazismus*.
Ist ein Text zu sperrig, zwingt er zum Mitdenken, jenem kurzen Aufblitzen der Freiheit, wird weiter gescrollt und weggewischt. Wie in einem Computerspiel können die Gefangenen selber ihre potentiellen Befreier abknallen und die Gefängniswärter früher nach Hause gehen. Nichts drückt dies erschütternder aus als die Phrase von den Texten, die einen „abholen“.
Nicht wir sollen uns um Wahrheiten bemühen, sondern diese mit dem jeweils günstigsten Schnäppchenpreis um uns. Denn der Kunde ist König und die Wahrheit ein Taxiunternehmen. Das hier Billigste wirft die anderen aus der Bahn. Aber wehe jemand schreibt Texte, die einen gar nicht abholen wollen.

Ungewöhnliche Worte zu gebrauchen, ist eine literarische Unart. Man darf dem Publikum bloß gedankliche Schwierigkeiten in den Weg legen. Sprache lebt in unmittelbarer Verständigung mit dem durch die Zeit empörten Geist. Hier kann jene Verschwörung zustandekommen, die Kunst ist.

Sofort aus der Gemeinschaft der guten Menschen ausgeschlossen würde Kraus 2.0, wenn er von seiner Unart nicht ablassen könnte, Kollegen und Menschen des öffentlichen Lebens schlecht zu machen. Nicht nur das. Seine Polemiken provozierten ein permanentes psychiatrisches Gutachten. Dass jemand auf andere schimpft, kann man gut nachvollziehen. Dass er es mit Geist und Witz tut, also eine kunstvolle Form dafür findet, ist unverzeihlich.
Denn ist Ersteres als impulsives Dampfablassen jedermanns und -fraus Sache, so zeugt die Berechnung des besten sprachlichen Effekts doch von Berechnung und folglich von einem besonders miesen Charakter. Nichts wirkt heute befremdlicher als die einstmalige Kunst der Polemik und der Invektive: der kunstvollen Beleidigung.
Eine Kraus–Lesung gegen den Ungeist der Zeit würde unter den politisch Korrekten ähnliche Empörung auslösen wie ein Sprengstoffanschlag auf einen Kindergarten. Und selbst wenn Kraus bloß gegen die Lieferanten des Zündmechanismus wetterte. – Wie kann man bloß so intolerant sein? Der arrogante Sadist hat soeben den armen Waffenproduzenten zum Weinen gebracht.
„Polemisch“ gilt unter den publizistischen Langweilern als pejorativ**, als Synonym für unsachlich und subjektiv verbohrt. Während ihre Einerseits/Andererseits-Waage nach dem seriösen Abwägen der Argumente doch erstaunlicherweise immer das konforme Einerseits mehr wiegen lässt. So als würde unsichtbare Zauberhand ein gewichtiges Devidendchen aufs Schälchen legen.

Hass muss produktiv machen. Sonst ist es gleich gescheiter, zu lieben.

So heißt das Programm von Karl Kraus. Jede Beleidigung, jeder An- und Untergriff, der nicht Kunststück, von Reflexion, Witz, Humanität gedeckt ist, wird zu recht geahndet. Das unterscheidet gute Polemik von Wutbürgertum, vom unartikulierten Aufschrei, von derbem Pöbeln.
Der gute Polemiker simplifiziert nicht, er differenziert durch seine Übertreibungen. Er greift aus Überzeugungen, nicht aus Häme an. Was der Zweckgemeinschaft der Hämischen so ungeheuerlich ist, dass ihr nur der Vorwurf der Selbstgerechtigkeit bleibt. Denn nicht die Aggressivität der Polemik stört sie wirklich, sondern die Weigerung des Polemikers niedrige Beweggründe zuzugeben, die ihn wenigstens zu einem Menschen wie dich und mich machten. Gute Polemiker sind Gentlemen oder Gentlewomen, schlechte Polemiker Lumpen. Nur noch geschultes Bewusstsein kann das unterscheiden.

Doch wo sind die Schulen die es lehren?
Karl Kraus wäre die beste. Und für alle, die auf die gentechnologischen Versprechungen der Altersforschung nicht warten können: er ist der beste bislang verfügbare Jungbrunnen.
Denn:

Jung sein heißt, mit unverminderter Frische und Ablehnungsfähigkeit dem Maß hoher Erlebnisse treu, Unwesen und Unzulänglichkeit an sich nicht herankommen lassen. Alt sein heißt mithatschen.

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* das Ignorieren oder Ausschließen einzelner Personen oder Gruppen durch andere
** implizit abwertend

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Tierhaargespräche

geführt von Monty Arnold

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Lesen vom Blatt: Lange Sätze

betr.: Sprechen am Mikrofon / Übung

Fortsetzung vom 22. April 2024

Ein Mann erwartet eine sexuelle Gespielin, die ihm von einer alten Freundin geschickt wird, um ihn von einer Depression abzulenken. Wer wäre besser geeignet, jenes große Modethema der zeitgenössischen Klatschpresse literarisch zu verhandeln als die unerreichte Spezialistin für den Überdruss des modernen Menschen Françoise Sagan, die es schon 1969 in „Ein bißchen Sonne im kalten Wasser“ zum Thema eines Romans machte.
Bei diesem Textbeispiel handelt es sich um eine lange Aufzählung. Wer das rechtzeitig bemerkt, dem kann dieser Satz nichts anhaben. Er könnte ewig so weitergehen – würde er nicht am Ende einer geräumigen Kreisbewegung wieder am Anfang ankommen.

Nachdem die beiden gegangen waren, legte er sich auf das Sofa im Salon, in einem Hausmantel, der dort seltsamerweise vom jemandem zurückgelassen worden war, zündete sich eine Zigarette an, nahm eine Zeitschrift, stellte ein Glas neben sich auf den Boden, musste dann aufstehen, um einen Aschebecher zu suchen, musste aufstehen, um den Plattenspieler und die sanfte Musik, die von Gilda nicht leise genug eingestellt worden war, leiser zu drehen, musste aufstehen, um das Fenster zu öffnen, weil er zu ersticken drohte, musste aufstehen, um es wieder zu schließen, weil er fror, musste aufstehen, um die in Gildas Schlafzimmer vergessenen Zigaretten zu holen, , musste aufstehen, um ein Stückchen Eis in seinen Whisky zu tun, musste aufstehen, um die Schallplatte nach dreimaliger Wiederholung zu wechseln, musste aufstehen, um einen Telefonanruf zu beantworten und musste dann nochmals aufstehen, um eine andere Zeitschrift zu holen.

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Tierhaargespräche

geführt von Monty Arnold

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Zwischen den Festen

Auf einer Ratgeberseite in einem seriösen Printmedium wurde das Thema „leidige Verwandtenbesuche an hohen Feiertagen“ behandelt. Der Streit, der bei solchen Begegnungen automatisch ausbricht (wie der Artikel nahelegt und wie die beobachtende Erfahrung lehrt), beruht hauptsächlich darauf, dass die zu Besuch kommenden, längst erwachsenen Kinder mit den immergleichen  Sprüchen getriggert werden. Schon zur Begrüßung wird ihnen vermittelt: für mich bleibst Du immer minderjährig und unselbständig.

Die Psycho-Ratgeberin rät folgendes: „Man kann sich mental auf das nächste Treffen vorbereiten. Sagen wir, die Mutter fragt jedes Mal, wann man endlich ein Kind bekommt. Dann kann man sich vorher eine Antwort zurechtlegen wie: ‚Ich kann gut verstehen, dass du Enkel willst, und sobald es soweit ist, wirst du die Erste sein, die es erfährt.‘“

Wer solch einen Rat gibt, hat offensichtlich keine Familie (oder ist selbst diejenige, die solche Sprüche klopft wenn die eigenen Kinder zu Besuch kommen). Die vorgeschlagene Antwort ist vollkommen wirkungslos, denn das Ärgernis besteht ja darin, dass man in der beschriebenen respektlosen Weise behandelt wird, und das hat bereits stattgefunden, wenn man zu einer Antwort – welchen Inhalts auch immer – erstmalig ansetzt. Erfahrungsgemäß hören Personen, die in ihrem Sozialverhalten derart festgefahren sind wie die Mutter in unserem Beispiel, sowieso nicht zu wenn man antwortet (und wiederholen die selbe Frage bis zum dritten Weihnachtstag noch mehrmals).
Als ob dieser Tipp nicht schon schlimm genug wäre, fügt die Spezialistin noch hinzu: „Man sollte auch versuchen, Toleranz und Wohlwollen für sie zu zeigen. Man will selber doch auch toleriert werden.“

Am besten fasst man sich an die eigene Nase. Von seinen betagten Eltern irgendetwas zu erwarten, was sie bis zum vorigen Jahr noch nicht gelernt hatten, ist einfach weltfremd. Ich selbst habe mich inzwischen wahrscheinlich auch nicht geändert.
Das Beste ist: Weihnachten zu hause bleiben.

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Die Last mit der Ferne

betr.: Zeit der Urlaubsplanung

Obwohl wir am selben Tag Geburtstag haben und somit exakt das gleiche Sternzeichen besitzen, hätte ich bis zu einem mehrseitigen Artikel im „Zeit Magazin“ vor einigen Jahren nicht für möglich gehalten, dass mir Leander Haußmann einmal aus dem Herzen sprechen würde. Seither habe ich ihn in die Sammlung der prominenten Fürsprecher für jene meiner Schrullen aufgenommen, über mein engeres Umfeld zuweilen den Kopf schüttelt.
Sein Anti-Reise-Plädoyer beginnt mit dem erleichternden Hinweis „Ich bin freischaffend, mir steht gar kein Urlaub zu“ und setzt gegen Ende zu der sehr rhetorischen Frage an: „Wo, bitte schön, bekommt man mehr Luxus als in den eigenen vier Wänden?“

Dazwischen wird bereitwillig von den Frustrationen des Verreisens allein und mit der Familie, ins befreundete sozialistische Ausland und später in den sehnsuchtsvoll hochgejazzten Rest der Welt berichtet, im Familienwagen, zu Fahrrad, per Flugzeug oder Ozeandampfer. Alles grauenvoll und vor allem: überflüssig. Zum Glück habe ich das meiste davon entweder nie tun müssen oder einfach gleich seingelassen.
Haußmann schreibt über uns beide wenn er bekennt, „dass ich viele weitere reisefeindliche Eigenschaften vereine, wie mangelndes Organisiertsein, Orientierungslosigkeit, die Unfähigkeit, ein Kraftfahrzeug zu steuern, (…) (weitgehend) fehlende Fremdsprachenkenntnisse“ und erregt meine Identifikation auch in den wenigen kosmetischen Abweichungen, aus denen er gleichwohl die selben Schlüsse zieht, wenn er fortfährt: „ADHS und eine Körpergröße, die nicht für Linienflüge in der Holzklasse gemacht ist (die Diskriminierung von großen Menschen in Flugzeugen muss aufhören!)“. Er alpträumt von einer „Hochschule für Urlauberkunst“ und malt sich das Vorsprechen aus, bei dem sich herausstellt, dass die meisten Reiselustigen genauso orientierungslos, fahruntüchtig und monoglott sind wie wir zwei, ohne sich allerdings davon in ihrem Fernweh bremsen zu lassen. Zuletzt wird der Aspirant gefragt: „Lieben Sie die Natur?“ – „Nein.“
War ja klar.
Haußmann weiter: „Urlaub ist Ausnahmezustand, ich will aber keinen Ausnahmezustand!“
Sehr richtig.
Aber warum sind bloß alle übrigen Menschen so versessen darauf, zu verreisen? Das könnte daran liegen, dass sie nicht auf die Idee kommen, es sich daheim (wo man unterm Strich doch eine Menge Zeit verbringt) einigermaßen gemütlich zu machen.

In dem Theaterstück, in dem er erstmals als Lilo Wanders auftrat, sagte Ernie Reinhardt einst (wenn auch aus dem Munde einer anderen Figur) den erhellenden Satz: „Das Leben im Hotel hat seine Vorteile. Man erspart sich das Leben zu Hause.“

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Lesen vom Blatt: Lange Sätze

betr.: Sprechen am Mikrofon / Übung

Fortsetzung vom 18.4.2024

In „Sommerdiebe“ packt Truman Capote die gesamte komplexe Vorgeschichte eines gewöhnlichen Familienproblems in einen einzigen Nebensatz, der entsprechend umfangreich und durch ein ganzes Arsenal von Satzzeichen (darunter drei Doppelpunkte) strukturiert ist. Hier ist es vor allem der narrative Subtext – wie gesagt: ein Nebensatz –, der uns da hindurchleitet.

Lächelnd gestand sie sich ein, dass es vielleicht ein Fehler gewesen war, das gesagt zu haben: ihre Familie war ohnehin nicht weit weg davon, sie für pervers zu halten; schon mit vierzehn war sie zu der erschreckenden und völlig klaren Einsicht gelangt: ihre Mutter, begriff sie, liebte sie, ohne sie wirklich zu mögen; anfangs hatte sie gedacht, es läge daran, dass sie in den Augen ihrer Mutter hässlicher, eigensinniger, weniger kokett war als Apple, aber später, als sehr zu Apples Kummer deutlich wurde, dass sie, Grady, wesentlich hübscher aussah, gab sie es auf, sich über den Standpunkt ihrer Mutter den Kopf zu zerbrechen: die Antwort lautete natürlich, was auch sie schließlich begriff, dass sie einfach, in aller Stille, ihre Mutter nie, nicht einmal als ganz kleines Mädchen, sonderlich gemocht hatte.

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