Über die mentalesische Brücke (2)

betr.: Lesen vom Blatt / Sprechen am Mikrofon

Fortsetzung vom 10.10.2024

Ein unerfahrener Vorleser neigt dazu, den mentalesischen Teil zu überspringen. Er gibt die Wörter vom Papier direkt ans Mikrofon weiter, ohne sie unterdessen tatsächlich begriffen (also im genannten Sinne bebildert) zu haben. Das merkt der Zuhörer daran, dass ein Singsang entsteht, der recht flüssig daherkommen kann, dem aber unmöglich über einen längeren Zeitraum zu folgen ist. Alles, was der Vorleser zu sehen versäumt, kann der Zuhörende nicht hören. Er wird versuchen, diese Lücke selbst zu füllen und schon nach wenigen Zeilen aufgeben: seine Gedanken schweifen ab.
Diese verhängnisvolle Neigung zum Überspringen der mentalesischen Brücke hat mehrere Ursachen, die alle in unserer lebenslangen tagtäglichen kommunikativen Gewohnheit liegen. Vor allem sind wir, wenn wir einen Text privat und im Stillen lesen, etwas großzügiger mit der vollständigen Erfassung des Inhalts. Je nachdem, wie wichtig uns die Lektüre ist oder ob wir sie vielleicht nur tätigen, um etwas Zeit totzuschlagen, fehlen uns einzelne Teile und Bilder, ohne dass wir diesen Fehler bemerken. Das tun wir nur, wenn wir uns wirklich konzentrieren wollen (bei einem Roman oder sonst einem „guten Buch“) oder wenn die Lektüre dem notwendigen Erwerb von Wissen dient (eine Recherche oder das Pauken für eine Prüfung). Im Alltag sind wir es gewohnt, in diesem Punkt nachlässig sein zu dürfen. Beim Vorlesen fällt jedes dieser Versäumnisse sofort auf. (Der Vorleser bemerkt es selbst, wenn er den Faden verliert, unmittelbar bevor sich der hörbare Versprecher ereignet.)

Man tut gut daran, sich von vorneherein auf den Text einzulassen und keine Abkürzungen nehmen zu wollen. Sie kürzen nichts ab.
Das (Lese-)Vergnügen, das (nur) auf diese Weise entsteht, kennen wir von Büchern, die wir „verschlungen haben“, und es ist – wie gesagt – die Voraussetzung dafür, dass es ggf. auch der Zuhörer empfinden kann.

Denken und Sprechen haben also viel miteinander zu tun, sind aber nicht identisch. Die Netzwerke, die in unserem Hirn aufleuchten, wenn wir Sätze planen oder verstehen, sind nicht dieselben wie bei abstraktem Denken.
Wenn wir fließend lesen, brauchen wir einen Vorsprung beim Überblicken des Textes – unabhängig davon, ob wir ihn erstmalig lesen oder ihn schon für uns „eingerichtet“ haben.* Wir müssen jeden fremden Text in einem Manuskript behandeln, als enthielte er die Gedanken, die uns gerade persönlich bewegen. Es geht auch dann
„letztlich um die grundlegenden Werkzeuge, mit denen unser Gehirn die Welt zu begreifen versucht – um fundamentale Konzepte. Etwa die Einteilung der Zeit in Jetzt und Nichtjetzt oder des Raums in nah und fern, berührend und nicht berührend. So filtern wir die Welt bereits, bevor wir sie in Worte fassen.“ In dieser Liste fehlt nur eine zusätzliche Frage, die es in der Natur nicht gibt. Am Mikrofon fragen wir uns ganz zu Beginn: bin ich im ON oder im OFF?**
Wenn wir dem jeweiligen Gedankengang auf der abstrakten Ebene folgen und uns Fragen stellen wie „Wie geht’s weiter?“, „Was folgt daraus?“, entsteht eine Art Lückentext. Darin fehlen lediglich die noch ungelesenen Informationen. Diese werden als letzte hinzugefügt / eingebaut, eher der Satz schließlich über unsere Lippen kommt.
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Die Zitate stammen aus einem Interview mit dem Kognitionspsychologen Steven Pinker im „Zeit-Magazin“ Nr. 43 vom 10.10.2024.

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* Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2020/06/24/sprechen-am-mikrofon-on-und-off-1/ sowie die folgenden Kapitel.
** Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2015/03/15/die-wonnen-der-ersten-lesung/

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