Regietheater – muss das sein?

„Zeit“-Autor Peter Kümmel fasste dieser Tage die Regietheater-Normalität auf unseren Bühnen so zusammen: „Seit Jahren gibt es in Deutschland ein Einheitsbühnenbild, in dem sich das meiste Theater (abzüglich der Boulevardkomödien) abspielt und worin die Figuren wohnen: Es ist das Verlies, das unmöblierte und fensterlose Gewölbe. Hier findet der Schauspieler keine Geborgenheit. Er muss immerzu stehen und spricht seinen Text wie ein Zeuge zum Publikum hin. Wenn er doch mal sitzen darf, dann auf einem kalten Stuhl, auf dem er leidet wie ein Sträfling, der verhört wird, ehe man ihn abführt. Kurzum: der ohnmächtige, unter diffuser Anklage stehende Mensch beherrscht, so paradox das auch klingt, die Bühnen. (Natürlich gibt es Ausnahmen: Manche Aufführungen spielen in den Bereich des Trashs hinein und sind muntere Abarten des Verlies-Theaters, da sie sich unter den Zwang setzen, nicht nur ‚die Lage des modernen Menschen‘ zu zeigen, sondern auch noch unterhaltend sein zu wollen.)“ (Der Artikel ist insgesamt freundlicher als dieser Anfang vermuten lässt…)

Die Annahme, es müsse sich in praktisch jeder modernen Inszenierung irgendjemand ausziehen und / oder vollschmieren, ist ein fürchterlich alter Hut. Spätestens seit 1976, seit Peter Zadeks legendär-skandalöser „Othello“-Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus, in der der halbnackte, schwarz bepinselte, abfärbende Ulrich Wildgruber in der Titelpartie über die Bühne tobte, gilt es als verstaubt und irrelevant, als eine Art naiver Malerei, die handelnden Personen eines (zumal klassischen!) Bühnenwerkes manierlich auszustatten und einzukleiden. „Hamlet“ hat nackt zu sein und vor Waschbeton auf seinem Laptop herumzuklickern – schließlich ist Shakespeare ja so unerhört zeitlos. (Eben!)
Auch in der Oper hat sich dieser Ansatz längst breitgemacht. Das unausgesprochene Argument: man wolle und müsse sich schließlich von den zahlreichen früheren Inszenierungen absetzen, um kreativ sein zu können. Selbst Zeitstücke (einige ja ihrerseits inzwischen Klassiker) spielen mit Vorliebe in raumloser Dekoration und in einer Atmosphäre beliebig wirkender Abstraktion, abstrakt und nach Möglichkeit dreckig. In einer Einführung (es Thomas Bernhard gegeben) entsetzte mich die Dramaturgin der genannten Hamburger Bühne einmal mit dem Geständnis, man habe alle weiblichen Rollen mit Männern besetzt und umgekehrt, denn irgendwas in der Art hätte man ja schließlich machen müssen. (In den Worten von Loriot: „Andere machen es doch auch!“)

Das heute „übliche Wasser-und-Brot-Theater“ (Kümmel) beruht auf der Wichtigkeit, die die Regie seit der Jahrhundertwende auf dem Theater genießt. Zuvor hatten der Autor und sein Stück im Vordergrund gestanden. 2000 Jahre nach den Werken der Alten Griechen musste die „sich immer schneller verändernde Welt (…) ebenso gedeutet werden wie die ihrerseits weltbedeutenden Texte des Theaters nach neuer Lesart verlang[t]en“ (Peter von Becker).*
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* in „Das Jahrhundert des Theaters“, Begleitbuch zur gleichnamigen TV-Reihe, ZDF / Dumont 2002

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Das vierte allerletzte Mal

Fernsehkritik von Torben Sterner

„Wetten dass ..?“ ist zuende. Wieder einmal habe ich Thomas Gottschalk von diesem antiquierten, aber (eigentlich) immer noch sehenswerten Format Abschied nehmen sehen, einen Moderator, dessen Fan ich bin (war, sein sollte …). Leider ist es bei ihm wie mit einem guten Wein: der wird irgendwann auch ungenießbar. – Gut, daran muss gar nicht unbedingt der Flascheninhalt schuld sein, es kann auch die Art der Lagerung sein.
Es bekommt „Wetten dass ..?“ nicht gut, dass das ZDF sein Monopol „Kandidaten können zeigen, was sie so draufhaben“ überlebt hat. Und dass Gottschalk – was er selbst beklagt – nicht mehr so frech drauflosplappern kann wie einst, liegt in der Natur der Sache. Man sieht ihm an, dass er sich jede Frage dreimal überlegen muss, und dann stellt auch noch die falsche. Er ist langsamer geworden und macht es sich dabei etwas zu gemütlich. Jeder weiß um die Knoten in seinem Kopf wenn es um Namen geht. Ihm dann drei Gäste mit fast demselben Nachmanen auf die Couch zu setzen, ist entweder nachlässig oder boshaft. Der wieder aufblitzende alte Thommy macht das Beste draus, indem er aus Schweighöfer-Schweinsteiger-Stappenbeck einen Zungenbrecher bastelt (an dem er sich allerdings selber verhebt). Und mit Cher an der Hand zu Helene Fischer zu sagen: „Die war schon öfter hier als du, ist aber auch schon länger unterwegs“, war ein Kleinod, bei dem ich herzlich lachen konnte. Leider habe ich mich dabei so sehr vor mir selbst erschrocken, dass meine Frau neben mir aufwachte.

Technisch – auch das soll hier nicht unerwähnt bleiben – war dieser Abend ein Reinfall: die Mikrofone gingen zur falschen Zeit auf und zu, die Kameras blickten unscharf, das Playback von Hélène David war verkorkst, und die Schilder von denen der Meister ablesen wollte, hingen so tief, dass er wirkte wie beim Gebet. Beim Herunterbeten einer Samstagabendshow…
Na, nun wollen wir doch mal sehen, ob der Elstner nochmal wiederkommt.

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„Uhrwerk Orange“: der unbehagliche Kultfilm

betr.: 30. Todestag von Anthony Burgess

London in einer nahen Zukunft. Allabendlich trifft sich Alex, ein Beethoven-Fan Ende 20 (in der Romanvorlage von Anthony Burgess handelt es sich um einen Teenager), mit seiner Gang, den „Droogs“ Pete, Georgie und Dim, in der Korova-Milchbar. Ihre Uniform: Melone, weißes Hemd, weiße Hose mit Tiefschutz und Springerstiefel. Von dort aus brechen die Jungs regelmäßig zu ihren nächtlichen Streifzügen in die Vorstadt auf. Sie kommunizieren in Nadsat miteinander, einem slawisch inspirierten Slang. (Auch die Ich-Erzählung von Alex für das Kinopublikum ist in diesem Duktus gehalten.)
Es sind Beutezüge, doch in erster Linie sind die gelangweilten Männer auf Gewaltexzesse aus, und wehrlose Opfer mögen sie am liebsten. Zunächst wird ein obdachloser Säufer in einer Unterführung krankenhausreif geschlagen und eine andere Gang aufgemischt, die etwas weniger originelle Army-Klamotten trägt. Doch das ist nur ein Vorgeschmack.
Alex und Co. dringen in die abgelegene Villa eines Schriftstellers ein und zwingen ihn, der Vergewaltigung seiner Frau zuzusehen. Sie töten eine reiche Hausbesitzerin, die allein mit ihren Katzen lebt. Da diese in weiser Vorahnung die Polizei alarmiert hat, wird Alex festgenommen – seine Komplizen, die er zuletzt mit seinem herrischen Gehabe verärgert hatte, lassen ihn im Stich.
Alex kommt ins Gefängnis, wo es ihm gelingt, sich beim Geistlichen der Einrichtung anzubiedern. Außerdem entzückt er die Vollzugsbeamten durch militärisch-gehorsames Auftreten. Als er von der Ludovico-Therapie hört, die der neue Premierminister angeordnet hat und nach deren Durchlaufen die vorzeitige Entlassung winkt, bewirbt er sich und wird angenommen.
Man unterzieht ihn einer Gehirnwäsche, die ihm die Lust auf Sex und Gewalt nehmen soll. Gefesselt, unter dem Einfluss von Medikamenten und mit arretierten Augenlidern muss er sich täglich stundenlang Filme von Tötungen und Folterungen ansehen (ein Programm, das weitaus dezenter ist als der Film selbst). Auch Nazi-Aufmärsche und Hitler-Reden sind darunter.
Der Soundtrack setzt Alex ganz besonders zu: eine verpoppte Version seiner Lieblingskomposition: Beethovens Neunte. Alex wird zu einem „Uhrwerk Orange“, einem Organismus, der wie auf Knopfdruck funktioniert.
Am Abschlusstag leckt er unterwürfig einer sadistischen Tunte die Schuhsohlen und widersteht dem Impuls, eine nackte Blondine zu begrapschen. Der Premierminister ist begeistert.
Wieder auf freiem Fuß, jedoch nunmehr wehrlos, entdeckt Alex, dass seine Eltern ihn durch einen Adoptivsohn ersetzt haben. Die er einst misshandelte, rächen sich: zuerst die Obdachlosen, dann seine Kumpels, die im Rahmen einer weiteren „fortschrittlichen“ Maßnahme der neuen Regierung zu Polizisten geworden sind. Der seit ihrem Zusammentreffen im Rollstuhl sitzende und verwitwete Schriftsteller nimmt ihn auf. Er will Alex als Märtyrerfigur für seine Umsturzpläne nutzen. Und Rache üben.
Alex stürzt sich aus dem Fenster – und erwacht in einem Gipsbett.
Um die Öffentlichkeit zu beruhigen, leitet die Regierung Maßnahmen zu seiner Rekonditionierung ein. Die ist aber kaum noch nötig, denn wie wir an seinem irren Blick und an seiner offenherzigen Erzählerstimme erkennen, ist Alex schon wieder ganz der Alte. Künftig stellt er seine mörderischen und sexuellen Triebe in den Dienst des Staates.

Wem die Inhaltsangabe von „Uhrwerk Orange“ stumpf und gewaltverherrlichend erscheint, der könnte beim Betrachten des Films unter Umständen einen ähnlichen Eindruck haben. Tatsächlich fühlte ein erheblicher Teil des Publikums so (und viele, die den Film gar nicht erst sehen wollten, weil sie der Inhalt abschreckte) und protestierte gegen ihn. Die Aufführungsverbote und Boykottaufrufe waren eine unbezahlbare Reklame, und wer daraufhin ins Kino ging, kam auf seine Kosten. Die Gewaltdarstellungen sind sehr explizit und werden durch ihre schrille Überzeichnung und den psychedelischen Kitsch-Look für niemanden angenehmer, der Brutalität nicht schätzt – ebensowenig wie durch die eifrigen Hinweise der Macher, es ginge ihnen doch nur darum, die Abscheulichkeit von Gewalt vorzuführen und anzuprangern.

Dass die Kritik nicht gänzlich aus der Luft gegriffen ist, lässt sich schon daran ablesen, dass die Mitwirkenden und die Familie des Regisseurs „A Clockwork Orange“ in den zahllosen seither geführten Interviews unentwegt verteidigen, um nicht zu sagen: rechtfertigen. Auch eine neuere Doku über die Romanvorlage hat praktisch kein anderes Thema. Obwohl sie zum Weltruhm des Buches erheblich beitrug, war der Autor übrigens unzufrieden mit der filmischen Umsetzung. Anthony Burgess beklagte sich, Kubrick habe – wie auch die amerikanischen Verleger des Buches – das 21. Kapitel weggelassen und damit seine moralische Pointe sabotiert.

Was macht „A Clockwork Orange“ nun zum wahrhaftigen Kultfilm? Es ist eine Maßnahme, die der Regisseur (möglicherweise ohne Marketing-Hintergedanken) selbst ergriffen hat. Wegen der Proteste und Drohungen in den USA, bat Kubrick die Produktionsfirma darum, ihn in England zurückzuziehen, da er um seine Sicherheit und die seiner Familie fürchtete. Dass Warner Bros. dieser Bitte entsprach, spricht sowohl für das enorme Ansehen des Regisseurs als auch für die Gewinne, die der Film im Rest der Welt einspielte und die den britischen Markt offenbar entbehrlich erscheinen ließen.
Stanley Kubricks Landsleute mussten sich jahrelang mit VHS-Kopien und Sondervorstellungen begnügen oder – wenn diese nicht zu Hand waren – darüber spekulieren, welches Meisterwerk der Filmkunst ihnen da vorenthalten wurde.

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Tierhaargespräche

geführt von Monty Arnold

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Tucholksy 2023

betr.: Die Niederlande haben gewählt

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Pseudo-amerikanische Befindlichkeiten

Der Kurator und Comic-Spezialist Alexander Braun vollbringt mit seinem neuen Buch „Staying West!“ – dem Katalog zu seiner gleichnamigen Ausstellung – einmal mehr das Kunststück, ein Stück Kulturgeschichte für uns nachvollziehbar zu machen und zugleich etwas Hilfreiches zu einer aktuellen Debatte beizusteuern, die sehr hitzig und auf keinem sehr hohen Niveau geführt wird.
„Staying West!“ ist die Fortsetzung von Ausstellung und Buch „Going West!“*, und wieder wird sich mit der Darstellung der Besiedlung Nordamerikas durch die europäischen Einwanderer beschäftigt, wie sie sich im Comic dargestellt hat. Alexander Braun beweist, dass der Comic sich ab 1920, also „verblüffend früh und bemerkenswert authentisch mit der Kultur der Indigenen auseinandersetzten: zu einer Zeit, als in Hollywood noch skalpiert wurde.“
Er entlarvt die eine oder andere Debatte als gegenstandslos, indem er etwa den Unsinn der kürzlichen Ächtung des Begriffs „Indianer“ (das „I-Wort“) in unserem Sprachgebrauch aufdröselt**. In diesem Zusammenhang wirft Braun auch einen Blick auf die gefeierte Arbeit der Donald-Duck-Übersetzerin Erika Fuchs, ihre Versäumnisse und die heutigen Versuche ihres Verlages, mit dem rasanten Wandel des Sagbaren und momentan Nicht-mehr-Sagbaren umzugehen.

Vieles in dieser Fachpublikation ist grundsätzlich bedenkenswert: „Sprache ist ambivalent und verändert sich mit der Zeit. Das gilt es anzuerkennen, egal, welche Position die eine oder andere Partei vertritt. Sammelbegriffe, die Unterschiede im Detail nicht per se negieren, sondern lediglich im Sinne besserer Kommunikationsfähigkeit für den Moment hintanstellen, sind deswegen auch nicht per se rassistisch. (…) Wenig zielführend (…) ist ein apodiktisches Denken, [mit dem] die Arroganz verbunden ist, zu glauben, dass unser heutiges Denken und handeln unangreifbar wäre und für alle Ewigkeit Bestand habe – die Geschichte lehrt uns etwas anderes -, verstellt jede Falsch/Richtig-, Böse/Gut-Rigorosität den Blick auf Dynamiken und Prozesse.“
Derlei Kulturkampfdebatten sind vor allem deshalb so beliebt, „weil so von den eigentlichen Problemen abgelenkt wird. Wer sich in den Elfenbeinturm begibt, um dort verzehrende Kulturelle-Aneignungs-Debatten zu führen, hat am Ende des Tages keine Kraft mehr, um für gerechten Lohn, für Zugang zu sauberem Trinkwasser und gegen Klima- und Ernährungsprobleme zu kämpfen.“

NICHT aus dem besprochenen Band: Strip aus „Alwis: Aweile Awwer“ von Schnorres und Schmitt (Selbstverlag 1988).

Die Ausstellung „Staying West!“ findet noch bis zum 03. April 2024 im „Schauraum Comic + Cartoon“ in Dortmund statt.
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* Siehe https://blog.montyarnold.com/2016/01/07/going-west-1-invasion-aus-der-alten-welt/
** Dieses Thema streift der Autor auch in diesem Radiobeitrag: https://www.deutschlandfunkkultur.de/staying-west-der-wilde-westen-im-comic-ausstellung-in-dortmund-dlf-kultur-3ea5caaa-100.html

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Das schönste Hitchcock-Buch seit Donald Spoto

betr.: „How To Hitchcock“ von Jens Wawrczeck

Schon im Vorwort gibt Jens Wawrczeck das Offensichtliche zu: „Ich kenne keinen Regisseur, über den mehr Biographien veröffentlicht und dessen Filme häufiger analysiert wurden. (…) Sucht man im Netz nach ‚Hitchcock‘, ertrinkt man in einem Meer von Einträgen.“
Als jemand, der die meisten dieser Bücher und unzählige der Artikel gelesen hat, als jemand, der Jens‘ künstlerische Arbeit persönlich sehr schätzt und der darüberhinaus seine Hitchcock-Begeisterung teilt, bin ich vielleicht gar nicht so geeignet, „How To Hitchcock“ zu beurteilen. Andererseits glaube ich, dass dessen Vorzüge auch vielen der „Ertrinkenden“ zugutekommen müssten, die aus einer ganz anderen Richtung kommen.

Was dieses Buch, das ich mit Vergnügen in einem Rutsch gelesen habe, tatsächlich den bisherigen Hitchcock-Exegesen hinzuzufügen hat, ist das Eingehen auf die Rolle, die die literarischen Vorlagen im Werk des Regisseurs gespielt haben. Auch der deutsche Blickwinkel kommt sonst üblicherweise zu kurz.
Wir werden in eine Zeit mitgenommen, als es zwar noch keine Videos und Mediatheken, aber ein wirklich reichhaltiges Filmprogramm im Fernsehen gab. Als jemand, der nur wenige Jahre jünger ist, gelang es mir innerhalb von etwa fünf Jahren, fast alle Hitchcockfilme abzuwarten und mitzuschneiden – und mit den Werken anderer Regisseure war es ähnlich.

Das Buch ist nicht nur ein hilfreicher „Home Compagnion“ für alle Hitchcock-Einsteiger (der auch Kritik nicht ausspart). Es hat auch ein paar wundervolle Subtexte, die ich als Außenstehender umso deutlicher entziffern konnte. So erzählt es sehr anrührend, wenn auch ohne jeden Kitsch, vom unschätzbaren Wert eines liebevollen Elternhauses und von den Qualitäten einer Heimatstadt, die sich einmal mehr großzügig als weit geöffnetes Tor zur Welt erwiesen hat.


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Die schräge Überfliegerin

betr.: 49. Todestag von Ursula Herking, 10. Todestag von Dieter Hildebrandt (in drei Tagen)

Als die Memoiren von Ursula Herking 1973 erschienen, dachte man bei deren Titel „Danke für die Blumen“ noch nicht an „Tom und Jerry“.
Beim Lesen solcher Biographien könnte man auf die Idee kommen, es müsste früher viel einfacher gewesen sein, Karriere zu machen oder bei Großereignissen mitzumischen. Ganz falsch ist dieser Eindruck sicher nicht: nach dem Krieg waren Gründungen späterer Institutionen an der Tagesordnung.
Im Falle des prominentesten deutschen Kabarett-Ensembles der Bonner Republik – wir sind ungefähr im Jahre 1956 – lief das in der Erinnerung von Frau Herking so ab:

Sammy Drechsel, Tausendsassa und Spürnase, kam eines Tages zu mir und sagte: „Ulla, hast du Lust, ein neues Kabarett mitzubegründen?“ Erst einmal sagte ich: „Nee.“ Ich hatte nämlich bei Trude [Hesterberg] aufgehört, dieses mal nicht im unguten, aber nach drei Programmen wollte ich mal wieder Theater spielen. Dann meinte er aber verschmitzt: „Wenn du mitmachst, dann macht der Dieter Hildebrandt auch mit.“ – Zu Dieter hatte er gesagt: „Die Herking macht mit.“ Das haben wir erst hinterher herausbekommen.
Ich sagte: „Hör zu, Sammy, ich möchte so gerne mal eine Art Chanson oder einen Sketch bringen, in dem eine Mutter einen Brief an ihre Tochter schreibt. Wenn Dieter das macht, mache ich mit.“ Dieter machte es, und dann brauchten wir noch weitere neunzehn Nummern.
Außerdem brauchten wir noch zwei Kabarettisten. Das einzige, was wir, dank Sammys Verhandlungskunst, immerhin hatten, war der Raum. Da wo er heute noch ist, in Schwabing, Haimhauser-, Ecke Ursulastraße. Eine gemütliche Kneipe. Sie gehörte Fred Kassen. Sammy machte zunächst einmal Fred zum musikalischen Leiter, dann kriegte er Klaus Havenstein herum, auch mitzumachen. Klaus Peter Schreiner, Oliver Hassencamp und Max Colpet*, und natürlich Dieter Hildebrandt selber, schrieben die Texte.
Einen Namen für unser neues Kabarett hatten wir auch noch nicht.
Wir beschlossen, mit dem vielen Kostümwechsel, der lästigen Umzieherei, aufzuhören, alle Nummern in einem gefälligen Einheitskostüm zu bringen und die Figur, die wir darzustellen hatten, nur durch kleine Veränderungen anzudeuten. Dazu gehörten Schwerter, Zylinder und ein Frackumhang, Sträuße aus künstlichen Blumen und vielerlei Krimskrams …
Nur einen dritten Mann hatten wir immer noch nicht.
Da fiel Ully „Dietsch“ ein. Hans Jürgen Diedrich war bei den „Amnestierten“ gewesen, trieb sich gerade in Paris herum, wie wir vermuteten ohne Geld. Wir riefen ihn dort an. „Wenn ihr mir die Reise zahlt, komme ich.“
Unser „neuer Stil“, den wir uns ausgedacht hatten, nämlich alles so zu spielen, als ob es uns in diesem Augenblick einfiele, geriet sehr oft ins Schwanken, da ja gerade diese Art des Spielens verlangt, dass man „über dem Text steht“, sich’s also leisten kann, gelegentlich mal ein witziges, aktuelles Aperçu einzufügen – aber wem fallen schon in einem gähnend leeren, in diffuses Tageslicht getauchten Lokal witzige Aperçus ein?
Unsere Bühne war so groß wie ein Handtuch. Das ist sie heute noch. Man kann nur von links oder rechts auf- oder abtreten, und dabei muß man jedesmal durch die Küche rasen. Die „Bühnenausstattung“ bestand darin, daß die Wand hinter der Handtuchbühne hellgrün gestrichen war.
Bei den letzten Proben saß Oliver Hassencamp drin, ja, er lachte sogar, was waren wir dankbar! Nennt es doch „Münchner Lach- und Schießgesellschaft“, meinte er.

Ursula Herking, die dies erzählt, hat in unseren Mediatheken und Wiederholungsschleifen heute vor allem als Schreckschraube in einigen Rudi-Carrell-Sketchen überlebt, etwa als muffige Zweiter-Klasse-Stewardess, eine ihrer letzten Arbeiten.
Klaus Peter Schreiner schreibt in seinem Buch über die „Lach- und Schieß“ wiederum über sie:

Mit Ursula Herling, die schon vor dem Dritten Reich in der Berliner „Katakombe“ als Brett’l-Künstlerin hervorgetreten war und die sich dann in UFA-Filmen als vertrottelte Sekretärin verschlissen zu haben schien, mit einer völlig neuen Ursula Herking als komödiantischem Zentrum feierte die „Schaubude“ Triumphe. Die Herking, Deutschlands klassischste und populärste Kabarettistin – „Bonbonniere“, „Kleine Freiheit“ und was sonst noch alles** -, hatte sich mit dem Film „Kinder, Mütter und ein General“ gerade als Charakterschauspielerin profiliert und war kabarettmüde, das wußte man. Also hatte es wohl gar keinen Sinn, bei ihr anzuklopfen.

Wir wissen ja, wie die Geschichte weiterging.
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* Siehe https://blog.montyarnold.com/2017/07/19/aus-berufenem-munde/
** Siehe Platz 3 des kleinen Rankings: https://blog.montyarnold.com/2015/07/29/die-wiedergefundene-textstelle-erich-kaestners-alles-ueber-eva/

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Was hilft bei „Kreativer Erschöpfung“?

Was ist „kreative Erschöpfung“? „Kreativ erschöpft“ kann man tatsächlich von kreativer Arbeit sein, aber auch davon, dass man den Genuss der kreativen Arbeit anderer versäumt hat (bzw. davon, es auf die falsche Weise und mit den unpassenden kulturellen Erzeugnissen Erholung getan zu haben). Wie wichtig mußevoller Kunstgenuss oder eine bewusst gewählte Mediennutzung sind, empfiehlt schon die Logik: kulturelle Genüsse sind die Freuden, über die wir eine gewisse Kontrolle übernehmen können – im Gegensatz zu erfüllter Liebe, gutem Sex oder dem spontanen Aufsuchen exotischer Reiseziele!

Im aktuellen „Spiegel“ zählt die Ärztin Saundra Daunton-Smith sechs Varianten der Ermüdung zu einem Gesamtbild zusammen: „Erholungsdefizite können auf körperlicher, mentaler, spiritueller, emotionaler, sozialer, sensorischer und kreativer Ebene auftreten. Wir erschöpfen uns beispielsweise emotional, wenn wir unsere Gefühle nicht authentisch ausdrücken können, etwa weil wir als Ärztin oder Lehrkraft eine Rolle einnehmen, die es nicht immer erlaubt, Gefühle spontan auszudrücken. Körperlich erschöpfen wir uns dann, wenn wir viele Stunden am Tag angespannt vor dem Computer sitzen oder schwer heben. Es kostet uns mentale Energie, wenn wir dem Gehirn permanent Konzentration abfordern. Die Informationsflut, Lichtreize oder Lärm überlasten uns sensorisch. In unserem heutigen Alltag erschöpfen wir uns über den Tag hinweg in fast jedem Bereich.“
Das Arbeiten nach festen Vorgaben, wie es im Berufsleben beinahe obligatorisch ist, verursacht etwa das erwähnte kreative Energiedefizit. Schon durch das Betrachten von Kunstwerken im Flur des Arbeitsplatzes könne man „automatisch kreative Energie“ tanken. Es kann uns aber auch verdeutlichen, wie wichtig und wie viel effektiver es ist, in der verbleibenden Zeit selbst und ganz bewusst für einen persönlichen Kunstgenuss zu sorgen (für einen Genuss, bei dem der Algorithmus nicht mitentscheidet).
Ansonsten hilft auch Meditieren, „also Ihre Gedanken zu betrachten, ohne sie zu bewerten“.

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In den Seilen

Betr.: 61. Jahrestag der Erstausstrahlung von „Requiem For A Heavyweight“ (morgen)

Rod Serling* ebnete den Weg zu seiner Karriere als einer der wichtigsten Autoren des frühen US-amerikanischen Fernsehens (in dem fiktionale Stoffe noch live gespielt wurden) mit einer Reihe preisgekrönter Fernsehspiele, die uns heute nicht einmal mehr dem Namen nach geläufig sind. Der Schauspieler Anthony Quinn schildert in seiner Autobiographie „Ein-Mann-Tango“, wo er in diesem Repertoire seinen Platz hat. Er spricht dabei auch über das Finden und Durchhalten der Stimme einer Figur.

Sam Spiegel besorgte mir den Part des abgehalfterten Boxers Mountain Rivera in „Die Faust im Gesicht“, der Spielfilmadaption von Rod Serlings Fernsehklassiker] „Requiem For A Heavyweight“ (1962) aus der Reihe] „Playhouse 90“. Neben mir spielten in den Hauptrollen Jackie Gleason, Mickey Rooney und Julie Harris.
Es war eine pikante Rolle, die, wie ich inzwischen finde, zu meinen besseren Leistungen zählt, obwohl ich mir am Anfang Sorgen machte, ich könnte nur einen abgedroschenen Auftritt liefern. Ich bemühte mich, meine Darstellung von den grobschlächtigen Klischees zu befreien, die man in den meisten Boxerfilmen antrifft, und statt dessen das Portrait eines geschlagenen Mannes zu zeigen, der nicht mehr ein noch aus weiß. Doch meine anfänglichen Versuche blieben erfolglos.
Während der Proben arbeitete ich meinen Charakter ständig um und versuchte ihn richtig hinzubekommen. Einen Tag spielte ich Rivera als brutalen Rüpel, am nächsten als liebe, aber längst vergangene Größe. Niemand schien mein Ringen mit der Rolle wahrzunehmen oder sich dafür zu interessieren. Der Regisseur Ralph Nelson, der auch die Fernsehfassung realisiert hatte, war mit ein paar komplizierten Aufbauten beschäftigt. Gleason und Rooney hatten mit ihren eigenen Charakteren zu tun. Und der Produzent David Susskind versuchte von früh bis spät, alles zusammenzuhalten.
Am Tag bevor meine erste Szene gedreht werden sollte, hatte ich mich immer noch nicht entschieden, wie ich die Rolle nun spielen würde. An Ideen fehlte es nicht, aber irgendwie stimmte alles nicht so recht. Als ich schließlich mit Abie Bain, einem unserer Experten für die Boxszenen, noch ein letztes Mal eine Boxsequenz trainierte, hörte ich plötzlich auf der anderen Seite des Rings genau die Stimme, die ich haben wollte. Abie Bain war ein großer Halbschwergewichtler gewesen. Er hätte es womöglich zum Champion gebracht, nur ließ er sich nie von der Mafia vereinnahmen und schaffte es deshalb nie bis an die Spitze. Seine Stimme war ein heiseres Krächzen, so als wäre man ihm ein paarmal zu oft an die Gurgel gegangen. „Tony“, keuchte er, als wir es für den Abend gut sein ließen, „Süßer, was’n los?“ Er sprach unheimlich leise; in seiner Stimme lag Kraft, aber auch Schmerz, Unsicherheit und Zärtlichkeit.
Das ist es, dachte ich. Genau das hatte ich gesucht. Abie Bain würde meiner Darstellung von Mountain Rivera den letzten Schliff geben. Ich schnappte mir den alten Fighter, lud ihn zum Essen ein, um mir so viel wie möglich von seinem Tonfall anzueignen, und blieb dann die ganze Nacht auf und versuchte, meine Stimme zu perfektionieren.
Am nächsten Morgen war ich bereit. Auf dem Plan stand eine Szene, in der Julie Harris eine Angestellte im Arbeitsvermittlungsbüro spielt und Rivera zu einem Job verhelfen möchte. Es war nicht die Anfangsszene im Drehbuch, aber mein erster Auftritt im Film und daher wichtig für mich. Die erste Aufnehme bedeutet für einen Schauspieler immer den Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Egal welche Stimme ich hier verwendete, ich musste sie den ganzen Film durchhalten.
Miss Harris sah mich zunächst an, als ob ich verrückt wäre. Sie muss meine raspelnde Stimme gehört und sich gedacht haben, ich hätte eine akute Kehlkopfentzündung. Bei den Proben hatte ich völlig anders gesprochen. Trotzdem hielt sie durch, und wir spielten die Aufnahme zuende. Als wir fertig waren, kam Ralph Nelson zum Set und fing an zu würgen. Er war nicht der feinste Regisseur der Welt, wie ich noch lernen sollte, und auch nicht der freundlichste Zeitgenosse. Wenn er etwas nicht mochte, gab er sich alle erdenkliche Mühe, es zu zeigen. Im Moment klang es, als würde er kotzen. Das hatte wohl nichts Gutes zu bedeuten, folgerte ich.
„Was ist los, Ralph“, fragte ich. „Hast du was Schlechtes gegessen?“
„Du hast was Schlechtes gesagt“, erwiderte er. „Um genau zu sein, du hast nur Schlechtes gesagt. Wie zum Teufel bist du bloß auf die Stimme gekommen?“
„Durch Abie“, erklärte ich, „er spricht genauso. Und ich hab’ mich entschieden, meinem Charakter diesen Tonfall zu geben. Ich dachte mir, das klingt müde und kaputt, wie eine echte Boxerstimme.“
„Tja, es klingt ziemlich beschissen“, sagte der Regisseur. „Wenn du so sprichst, kann ich keinen Film mit dir drehen. Du bist fast in jeder Szene!“
Da sich Susskind, Gleason und Rooney anlässlich der ersten großen Aufnahmen ebenfalls am Set befanden, blickte ich hilfesuchend zu ihnen hinüber. Gleason drehte sich weg; er mochte sich nicht in die Debatte einmischen. Rooney nickte zustimmend, nur Suskind brachte seine Begeisterung zum Ausdruck. „Du hast mich zwar ziemlich erschreckt, Tony“, meinte er, „aber mir gefällt es.“
Leider gefiel es Ralph Nelson gar nicht, und wie sich zeigte, war auch Gleason keineswegs begeistert. Susskind wollte es auf einen Test ankommen lassen. Er gab uns für den Rest des Vormittags frei und bat die Hauptdarsteller, nach dem Essen wieder zusammenzutreffen, damit wir uns die Muster ansehen konnten. Dann würden wir entscheiden, was mit meiner Stimme passierte.
Das war eine demokratische Lösung, und ich bewunderte Susskind, dass er sich seinem Regisseur gegenüber behauptete. Produzenten haben viel zu oft Angst, die von ihnen engagierten, empfindlichen Künstler aufzuregen, besonders in den frühen sechziger Jahren, aber Susskind war ein vernünftiger Mensch, der auch bei anderen Vernunft voraussetzte. Nun musste er eben einem sturen Regisseur ein Quentchen davon abverlangen.
Susskind schickte den Film ins Labor und rief uns nach dem Mittagessen in den Vorführraum. Ich betrachtete mich nicht gern auf der Leinwand, und mir Muster durch die Augen meiner Kollegen anzusehen, bereitete mir noch größeres Unbehagen. Ich wusste nie, ob ich mir den Film oder die Leute im Vorführraum anschauen sollte. An diesem Tag suchte ich mir Mickey Rooney aus und beobachtete ihn beim Beobachten der Szene. Da er der beste Schauspieler von uns war, hielt ich seine Reaktion für entscheidend. Als er am Schluss zu klatschen anfing, war ich sicher, dass sich meine Mühe gelohnt hatte.
Susskind stand auf und wandte sich an den Regisseur. „Also schön, was meinst du?“ fragte er.
„Ich weiß nicht“, sagte Nelson. „Mir gefällt es immer noch nicht. Ich weiß es einfach nicht.“
„Das solltest du aber verdammt noch mal wissen“, brüllte Susskind, „weil wir nämlich in einer Stunde wieder am Set sind, und wenn du es nicht weißt, dann lass ich eben Tony Quinn den Film drehen.“
Es herrschte entsetztes Schweigen. Nelson rutschte auf seinem Sessel hin und her. „Na gut“, sagte er schließlich, „wahrscheinlich muss ich mich einfach daran gewöhnen.“
Der Sieg führte jedoch zum nächsten Kampf. Es hätte durchaus eine intellektuelle Auseinandersetzung sein können, aber ich konnte mir nicht sicher sein.

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