Eher aus Pflichtgefühl denn aus Neugier habe ich mir den Film „Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles“ angeschaut: in Vorbereitung einer Folge meines Podcasts „Kultfilm Azubis“. Die Sichtung war eh überfällig, da der Film im Januar 2022 von „Sight And Sound“ zum „Besten Film aller Zeiten“ („Greatest of All Time“) gekürt wurde. Dieses seit 1952 alle zehn Jahre erhobene Voting hatte erheblich zum verdienten Nachruhm von „Citizen Kane“ beigetragen und zuletzt Hitchcocks „Vertigo“ getroffen.
Eine Handlung gibt es bis auf die letzte Szene nicht. Wir sehen einer Hausfrau beim Leben zu, vor allem in ihrer Wohnung. Ab und zu begleiten wir sie auf kurzen Wegen nach draußen.
Einen so obskuren Film wie „Jeanne Dielman“ mit dieser Auszeichnung zu versehen, ist eine Provokation – klar! Das birgt allerdings die Tücke, einen Schatten auf die Jury (und damit auf ihr Urteil) zu werfen: den Schatten des Verdachts nämlich, dass man sich hier von einzelnen superpfiffigen Teilnehmern dazu hat anstiften lassen, diesmal kein in der üblichen Weise salomonisches Urteil zu fällen, sondern eben ein provozierendes – und damit in diesen digitalen Zeiten mal etwas auf den Busch zu klopfen. Das schmeckt mir ein wenig unseriös, und ich hatte das Gefühl, hier werde das selbstgestellte Thema verfehlt. Vor allem unter diesen klammen Vorzeichen ging ich daran, mich mehr als drei Stunden lang auf ein Werk einzulassen, das dem Regisseur von „Vertigo“ als Inbegriff der von ihm verachteten „Kitchen Sink Movies“ erschienen wäre. Da man ihm da schlichtweg nicht widersprechen kann, war die Frage die: kann es ein solcher Film schaffen, mich trotzdem zu unterhalten. Es sprach einiges dafür, denn Stoffe, die mich eigentlich nichts angehen und mich trotzdem einfangen, sind ein Vergnügen besonderer Art. Im Podcast spreche ich regelmäßig von solchen Glücksmomenten.
Als einzige Recherche vorab wollte ich unbedingt wissen, was Michael Haneke dazu sagt. Er ist nicht nur der alle überflügelnde Meister darin, im Alltag Haarsträubendes freizulegen, er hat mich auch bei jedem seiner Filme aus meinen Sehgewohnheiten herausgeführt und fast immer begeistert. Nachdem Chantal Akerman in den beiden Haneke-Büchern in meinem Regal – eins davon ein langes Interview – nicht erwähnt wird, habe ich auf eine Internet-Recherche verzichtet.
Als ein Filmliebhaber, der an den Entstehungszeitraum 1975 noch persönliche Erinnerungen hat und der sich sehr gern in diese Ära entführen lässt, hatte ich rasch einen Eindruck, der sich bis zuletzt nicht verflüchtigen sollte: die Innovation, für die die Regisseurin allenthalben gepriesen und von „Sight And Sound“ als „A Primer“ bezeichnet wird, besteht allenfalls in der zeitlichen Länge, die sie ihren Stilmitteln einräumt. Schmucklose Plansequenzen von Alltagsbildern hatte es zuvor bereits bei Fassbinder gegeben – und im Gegensatz zu seinen zahllosen Verehrern bin ich der Auffassung, dass es ihm gut angestanden hätte, diesen Raum etwas kreativer auszufüllen. Bei Akerman dauern diese Einstellungen noch wesentlich länger, und es wird vorher aufgeräumt und sorgfältiger ausgeleuchtet. Überhaupt ist die hier behauptete Normalität das große Problem. Um als Heldin dieses Panoramas zu überzeugen, hätte sich Delphine Seyrig (zu sehen in „Letztes Jahr in Marienbad“ und beim späten Buñuel), natürlicher verhalten müssen. Sie bewegt sich stets wie unter Bobachtung: steif, geometrisch exakt wie eine veraltete Computeranimation. Ich ganzer Habitus hat etwas Kontrolliertes, darstellerisch Verunsichertes. Dadurch wirkt das Ergebnis wie eine Real-Life-Installation auf einem Performance-Festival.
Ich musste an einen Ausspruch von Woody Allen denken (den ich grundsätzlich zum Glück nicht teile): „Man merkt Schauspielern immer den Widerwillen an, eine Regieanweisung erfüllen zu müssen.“ Hier gab es offenbar nur eine einzige solche Anweisung: „Spiel einfach so, als wären wir nicht hier, um dich die ganze Zeit zu filmen!“
Zu dieser Künstlichkeit trägt bei, in welcher Weise die wenigen Dialoge ablaufen – es sind eher Monologe. Es gibt (wenn ich richtig gezählt habe) drei solcher Vorträge, die wie eine Lesung heruntergerattert und vom Gegenüber stoisch abgewartet werden. Ist das vielleicht gerade die Botschaft? Will uns die Regisseurin zeigen, wie unfähig wir zur Kommunikation sind? Blödsinn, das ist einfach schlecht gemacht! Spätestens im Krönungsjahr 2022 kann mir diese Ausrede doch niemand mehr ernsthaft verkaufen wollen.
Die Einzelheiten von Dielmanns Witwenschaft werden uns in der frühesten Gardinenpredigt erklärt, einem ärgerlichen Funktionstext. Dass die Mutter kein herzliches Verhältnis zu ihrem Sohn aufzubauen versteht, ist ein dankbares Thema, doch auch dieses wird eher inszenatorisch ausgesessen als tatsächlich erzählt. Dass der bedauernswerte Teenager nicht mal ein eigenes Zimmer hat, wird ihm damit versüßt, dass sein Darsteller seinen Monolog von einer Tafel außerhalb des Bildrandes ablesen darf, die er eisig fixiert. Ganz wie die Mama: ohne Mimik, ohne Timing, ohne Rhythmus. Die wenigen knappen Alltagsgespräche („Ich habe weniger Wasser genommen, damit es besser schmeckt.“) sind würgender, banaler und gesuchter als alles, was die langweiligste bürgerliche Tristesse bereithält.
Dass sich Jeanne Dielman prostituiert, wird uns gleich zu Beginn erzählt. Dieser dramaturgische Paukenschlag – als solcher funktioniert er noch heute – wird uns gleich zu Begin präsentiert, was mir etwas verfrüht erscheint. Vielleicht hat die Regisseurin sich dazu entschieden, weil uns das Finale zu diesem Thema zurückführen wird und somit eine Klammer entsteht.
Der Film, den Chantal Akerman im Sinn gehabt haben könnte, ist in gelungener Weise bis heute nicht vorgelegt worden, und insofern ist ihr Konzept noch immer frisch. Ich kann die Erfüllung dieses Versprechens allerdings gut abwarten.