Die wiedergefundene Textstelle: Tove Ditlevsen über Hässlichkeit

Fortsetzung vom 10.1.2025

Da sie nur selten vor die Tür ging, war ich Frau Thomsen bloß drei- oder viermal begegnet. Ihre Augen waren rot geädert wie die eines Menschen der niemals schläft, und ihre Hässlichkeit war derart vollkommen, dass sie mir eine Art schaudernden Respekt abverlangte. Und gleichzeitig war ich nach unseren Begegnungen noch tagelang von ihrem kalten und gierigen Blick verstört.
Sie hatte ihre Schlafkammer direkt über Vilhelms Zimmer, und ich spürte wie ihre niederträchtigen, schmierigen Gedanken durch die Decke sickerten und sich unauflöslich mit meinen vermischten.
Frau Thomsen verdächtigte ihre Untermieter sämtlicher unaufgeklärter Verbrechen und gönnte sich kaum Schlaf, weil sie fürchtete, den entscheidenden Beweis zu verpassen, sobald sie ihr Kommen und Gehen nicht mehr unermüdlich ausspionierte. Weil mir schon bei ihrem Anblick das Blut in den Adern gefriert, nehme ich an, sie waren schnell wieder verschwunden. Wenn sie nicht freiwillig das Weite suchten, setzte sie sie irgendwann vor die Tür. Sofort waren wieder neue da, bevor sie die Bettwäsche wechseln konnte. Das erzählte sie ihnen jedenfalls mit ihrer heiseren, atemlosen Stimme, die ihren Gedanken hinterherhinkte wie bei einem Stotterer, sich zu einem monotonen Meckern beruhigte, wenn sie zu den munteren Beschreibungen des Lotterlebens ihrer ehemaligen Untermieter überging, die sich von einer armen und kranken alten Witwe, die ihre besten Tage hinter sich hatte, nur schwer zum Studium anhalten ließen.
Frau Thomsen hasste ausnahmslos alle Frauen, die jünger und schöner waren als sie selbst, also ungefähr den gesamten weiblichen Teil der Menschheit. Sie hasste den Mythos von der großen Liebe und sah ihre Zweifel an deren Existenz an jenem Schicksalstag bestätigt. Ich bin mir fast sicher, dass sie auch an diesem Tag im Treppenhaus lauerte, ihr knorpeliges, behaartes Ohr an unsere Wohnungstür presste und hernach zufrieden zu sich hinaufhumpelte.

Diese Passage wurde aus einem längeren Abschnitt von Ditlevsens letztem Roman „Vilhelms Zimmer“ herausgeschrieben.

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Tierhaargespräche

geführt von Monty Arnold

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Hemingway und der mittlere Sinnbogen

betr.: Sprechen am Mikrofon / Übung

Beherrschen Sie den mittleren Sinnbogen? Um es zu überprüfen, ist der folgende Auszug aus Ernest Hemingways „Eine Naturgeschichte der Toten“ hilfreich. Lesen Sie ihn laut vor und lassen Sie einen unbestechlichen Mitmenschen dabei zuhören.

Als Mungo Park, jener rastlose Reisende, einst auf seiner Wanderung nackt und allein in der unermesslichen Wildnis einer afrikanischen Wüste kraftlos dahinsank und seine Tage als gezählt ansah und nichts für ihn zu tun übrig schien, als sich niederzulegen und zu sterben, fiel ihm eine kleine Moosblume von außerordentlicher Schönheit ins Auge. „Obschon die ganze Pflanze“, sagte er, „nicht größer als einer meiner Finger war, konnte ich die zarte Bildung der Wurzeln, Blätter und Kapseln nicht ohne Bewunderung betrachten. Kann das Wesen, das in diesem dunklen Erdteil ein Ding wachsen, gedeihen und zur Vollkommenheit gelangen lässt, das von so geringer Bedeutung scheint, ohne Mitgefühl auf die Lage und das Leiden von Kreaturen herabblicken, die nach seinem Bilde geschaffen sind? Gewiss nicht. Überlegungen wie diese erlaubten mir nicht, zu verzweifeln. Ich machte mich auf, weder Hunger noch Müdigkeit achtend, setzte meine Reise fort, überzeugt, dass Hilfe nah war, und ich ward nicht enttäuscht.“

Haben Sie das Wort „erlaubten“ im vorletzten Satz betont – einzig die Silbe „laub“ und keine weitere? Dann haben Sie den mittleren Sinnbogen im Griff.
Sonst nicht.
Das in diesem Satz beschriebene Gefühl der Verzweiflung wird zuvor nicht ausdrücklich erwähnt, wird aber als Bedrohung zu Anfang beschrieben und steht immerzu im Raum. Das Wort „verzweifeln“ darf daher ebensowenig betont werden wie „Überlegungen“, das einzige Hauptwort des Satzes.

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Draio Argento zu Lebzeiten beerdigt

betr.: „Vortex“ von Gaspar Noé (F 2021)

Dario Argento wird nicht zur Hochkultur gerechnet und fällt geflissentlich unter den Tisch, wenn von „Meisterregisseuren“ wie Bertolucci, Bergman oder Scorsese die Rede ist. Das ist ein bisschen unfair, spielt aber in unseren Zeiten eh keine Rolle mehr. Mit dem Ansehen von Kompetenz, Expertise und Einordnung haben die sozialen Medien auch die Schubladen pulverisiert, in die man kulturelle Güter einsortieren kann. Das ist insgesamt bedauerlich, hat aber von Zeit zu Zeit auch mal sein Gutes, denn natürlich ist Dario Argento einer der bedeutenden Kinoregisseure des 20. Jahrhunderts, nur eben in der Nische des blutrünstigen italienischen Thriller- und Horrorkinos. (Der Großregisseur Quentin Tarantino würde diesen Namen sicher nicht übergehen.)

80jährig und älter aussehend hat sich Dario Argento vor einigen Jahren auf ein Projekt eingelassen, das auf mich wirkt als wollte er Buße tun für die vielen unschuldigen Menschen, die er – zumeist in der Blüte ihrer Jugend – vor der Kamera so grausam hat verrecken lassen. Es wäre eine spannende philosophische Frage, ob der Tod, den er in „Vortex“ von Gaspar Noé zu sterben hat, nicht grauenvoller ist als der seiner Figuren: alt werden bis am eigenen Leibe nichts mehr richtig funktioniert, aber noch lange genug leben, um die Frau, mit der man sein Leben verbracht hat, rapide in eine Demenz abgleiten zu sehen.

Das Traurige am Betrachten von „Vortex“ ist weniger sein tragischer Inhalt als die unbefriedigende Art, in der selbiger für uns aufbereitet wird. Und Argento spielt in dieser Fehlkonstruktion die entscheidende Rolle – unterstützt von zwei Kollegen, die ihre Arbeit wiederum ganz fabelhaft machen: Françoise Lebrun (im Film namenlos wie ihr Mann) und Alex Lutz als Stéphane, ihr missratener erwachsener Sohn. Die übrigen, sehr kleinen Rollen – und hier nimmt das Übel bereits seinen Lauf – sind außerordentlich nachlässig besetzt und angeleitet. Es ist wie so oft: Noé war zu faul, sich mit Dingen zu beschäftigen, die er unrichtigerweise für Kleinkram hielt. Er würde sich jederzeit auf die Wahrhaftigkeit herausreden, die von seinen Laiendarstellern ausginge (bla bla…).

Dass der Regisseur hier mit den Improvisationstechniken der Doku-Soap arbeitet, ist nicht verwerflich, nur fällt er damit seinem unerfahrenen Hauptdarsteller in den Rücken, der ein sehr schlechtes Französisch spricht und auf ein Textbuch angewiesen war. Argentos Wortfindungsschwierigkeiten sind komplett unglaubwürdig angesichts der 37 Jahre, die er als gebürtiger Italiener mit seiner Frau in Paris zusammengelebt, in denen er einen Sohn großgezogen und sich einen Namen als Fachautor und Intellektueller (!) gemacht haben soll. Die Überlegungen, die er anstellt, während er an seinem Buch arbeitet – eine philosophische Annäherung an die Traumqualität der Filmkunst an sich – lässt der herzlose Noé seinen greisen Gaststar stammelnd improvisieren. Die abendliche Szene, in der fachsimpelnde Kollegen zu Besuch kommen, versinkt in sinnlosem Gequatsche. Sogar die alltäglichen Versuche des alten Herrn, mit Frau und Sohn zu kommunizieren, machen den Eindruck, als hätte sich ein Autofahrer in eine Gegend verirrt, in der alle Menschen Klingonisch reden.
Noés hübsches Konzept – ein geteilter Bildschirm, der das durch die Krankheit und das Erreichen eines gewissen Alters unversehens getrennte Paar parallel begleitet und ihre Entzweiung sichtbar macht – wird von solchen Nachlässigkeiten immer wieder sabotiert.

Natürlich hat ein Film wie „Vortex“ in unserer überalterten Gesellschaft einiges zu erzählen. Doch um seinen Regisseur für Innovation und Inhaltlichen Wagemut zu loben, ist er einfach zu spät dran. Alles, was Noé hier verhandelt, haben wir in den vergangenen 65 Jahren in sehr unterschiedlichen Filmen schon viel besser gesehen: in Roman Polanskis „Ekel“, Alexander Paynes „About Schmidt“, Michael Hanekes „Liebe“, Bryan Forbes„Flüsternde Wände“ und Dutzenden anderen; inzwischen ist noch Florian Zellers überaus beachtliches Demenzdrama „The Father“ hinzugekommen.
Außerdem gilt: Wer einige Konventionen des Film-Handwerks missachtet, der muss sich um die übrigen umso sorgfältiger kümmern. Daran kommt nicht mal ein Meister wie Michael Haneke vorbei.

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Harter Hund mit goldenem Herzen

betr.: Hörbuch in der ARD Audiothek

Manfred Zapatka ist ein rarer Fall: ein guter Schauspieler, der ein ebensoguter Interpret von Hörbüchern ist.
Seine Lesung des Hardboiled-Detective-Kriminalromans „Der lange Abschied“ (1954) ist folgerichtig ein großes Vergnügen. Die Aufnahme (1993 vom SWF produziert) ist außerdem geeignet, all jenen, die den oft verfilmten Raymond Chandler nur in Form von Adaptionen kennen, eine Frage zu beantworten, die sich sicher viele schon insgeheim gestellt haben: sind all die coolen Sprüche bei atmosphärisch dichter, aber doch eher wirrer Handlung es wirklich wert, dass man den Autor noch immer als Klassiker handelt. Sie sind es!
Beim Anhören merkt man, wie schwer es gewesen sein muss, Chandler zu verfilmen. Was in den Filmen – auch in den guten – etwas erratisch und unzusammenhängend wirkt, entfaltet in der Ausführlichkeit der Vorlage (auch sie wurde für die Lesung etwas gekürzt) eine ausgetüftelte Dramaturgie. Jede Station von Philip Marlowes Ermittlungen, jedes Gespräch und jedes Ereignis lässt sich unter mehreren Gesichtspunkten betrachten. Die meisten Drehbuchautoren haben sich über die unvermeidlichen Kompressionsverluste ihrer Bearbeitung mit dem Bestreben hinweggetröstet, möglichst viele der schnodderigen Bemerkungen in den Dialog zu retten, die Marlowe Freund und Feind um die Ohren haut. Deren Wirkung ist im Originalzusammenhang freilich eine völlig andere. Robert Towne schafft es in seinem Originaldrehbuch für „Chinatown“ übrigens recht gut, diese Magie auf die Leinwand zu bannen.

Zu Beginn zeigt Manfred Zapatkas Vortrag alle Anzeichen einer Prima-Vista-Lesung auf stabiler handwerklicher Grundlage (minder schwere Betonungsfehler, lange Pausen zwischen den Sätzen, ein durchgehend tastender Vortrag), was sich aber bald legt. Zu diesem Zeitpunkt ist man der Geschichte längst verfallen.

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Schallwellen privat

Das Nebelhorn – ein quadratisches Häuschen mit zwei mächtigen Schalltrichtern -steht in einer felsigen Bucht neben dem Leuchtturm. Dieses alles durchdringende Horn, das gegen den Nebel anbrüllt und den Schiffen mit schaurigem Geheul den Weg durch grauen Nebel weist, hat sich angeblich der schottische Ingenieur Robert Foulis ausgedacht, der im 19. Jh. nach Kanada ausgewandert ist. Das ist fast alles, was es an gesicherten Erkenntnissen gibt. Bei der britischen Autorin, Journalistin und Radiomoderatorin Jennifer Lucy Allan, die ihre Doktorarbeit über Nebelhörner fasst hat, liest sich der schöpferische Moment so: „An einem Abend […] ging Foulis bei dichtem Nebel am Strand spazieren. Noch von dort konnte er hören, wie seine Tochter Klavier spielte, und dabei fiel ihm auf, dass die tieferen Töne lauter klangen als die hohen und besser durch den Nebel drangen. In Nebel eingehüllt, ließ er sich vom Klavierspiel nach Hause leiten.“

Was ersehen wir daraus? Vor 150 Jahren wurden noch keine Partys gefeiert, bei der Rockmusik aus der Stereo-Anlage dröhnte. Wer unter einem solchen Partylöwen wohnt und zu schlafen versucht, der hört die Bässe der Musik deutlicher als den Rest. Ganz ohne Nebel und Klavierschülerin.

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Die wiedergefundene Textstelle: F. Scott Fitzgerald über Schönheit

Beide erhoben sich, als Becky – noch immer feucht und rosig von ihrem Bad – das Zimmer betrat. Becky war 19. Eine verblüffende kleine Schönheit, deren Kopf auf ihrem Körper saß, als wäre er getrennt von ihm geschaffen worden und danach mit äußerster Präzision auf ihm platziert worden. Ihr Körper war kräftig, athletisch. Ihr Kopf war eine strahlende, glückliche Komposition aus Rundungen und Schatten und lebendigen Farben mit jenem entscheidenden kinetischen Detail, jenem letztendlich erotisch wirkenden Element, das Fremde unweigerlich zwang, sie anzustarren. Wer kennt nicht das irritierende Erlebnis, eine scheinbare Schönheit von Weitem zu erblicken und dann, einen Augenblick später, sobald das selbe Gesicht in Bewegung gerät, zusehen zu müssen wie die Schönheit Schritt für Schritt verschwindet, als hätte eine reizende Statue mit den dürftigen Gelenken eines Hampelmannes zu gehen angefangen. Beckys Schönheit bildete davon das genaue Gegenteil. Die Gesichtsmuskeln formten ihre Züge zu entzückendem Lächeln und Stirnrunzeln, zu Verachtungen, Ermutigungen und Genugtuungen. Ihre Schönheit war beweglich, und sie drückte voller Intensität aus, was immer sie ausdrücken wollte.

F. Scott Fitzgerald, „Genau nach Plan“

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Becky was nineteen, a startling little beauty, with her head set upon her figure as though it had been made separately and then placed there with the utmost precision. Her body was sturdy, athletic; her head was a bright, happy composition of curves and shadows and vivid color, with that final kinetic jolt, the element that is eventually sexual in effect, which made strangers stare at her. Who has not had the excitement of seeing an apparent beauty from afar; then, after a moment, seeing that same face grow mobile and watching the beauty disappear moment by moment, as if a lovely statue had begun to walk with the meager joints of a paper doll? Becky’s beauty was the opposite of that. The facial muscles pulled her expressions into lovely smiles and frowns, disdains, gratifications and encouragements; her beauty was articulated, and expressed vividly whatever it wanted to express.

F. Scott Fitzgerald, „On Schedule“ – The Saturday Evening Post magazine, 18 March 1933

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Wieder 72 Jahre älter geworden

Diese Tafel verkündet eine banale, geradezu lächerliche Neuerung, die die meisten Menschen gar nicht mitbekommen werden. Dass auch ich sie erst mit zwei Tagen Verspätung wahrnehme, sagt mir: bei mir persönlich hat die Abschaltung offenbar bereits stattgefunden.
Und doch stimmt mich die Nachricht in dieser amtlichen Form traurig. Wieder ist die Zeit einen Schritt weitergerückt – hin und wieder tut sie das ja mit einem Ruck, der sich nicht übersehen oder umkehren lässt.
Außerdem verbindet mich mit dem linearen Fernsehen (dem ich fast nur noch ausweiche, indem ich die Mediatheken bemühe wie wir alle) und der SD-Technik (in der ich so viele Schätzchen auf DVD aufgezeichnet habe) eine nostalgische Zuneigung wie sie manch einer für eine aufgelöste Popband hegt oder für eine geliebte Serie, die lange nicht wiederholt worden ist. Auch der Inhalt des Programms wird sich damit ändern – und Historisches, das man erst einmal digital aufpolieren müsste, noch tiefer ins Archiv verschieben.

Die ARD ist sich des Ernstes der Lage bewusst. Der digitale Programmeintrag klingt wie eine Warnung, sich endlich in Sicherheit zu bringen: „Achtung! Sie schauen Fernsehen in SD!“

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Die ewige menschliche Suche nach dem noch ärmeren Würstchen

In einem der Interviews, die Heinz Strunk anlässlich seines neuen Romans „Zauberberg 2“ gegeben hat – seine pünktlich zum „Zauberberg“– und ThomasMann-Jubiläum fertiggestellte Hommage an die großen Vorläufer – war er bestrebt, seinen möglichen Kritikern das Wasser vor-abzugraben. Die würfen ihm am liebsten seinen grundfinsteren Blick auf die Menschen vor, und das stimme einfach nicht. Er schriebe nicht schlecht über die Menschen, er verzichte nur darauf, sie positiver (und optisch ansehnlicher) zu zeichnen als sie sind. Auch den Vorwurf, sich an Thomas Manns weltberühmtem Bildungs- und Jahrhundertroman verhoben zu haben, sah er ohne viel Fantasie voraus. Hier konnte er nur beteuern, er habe sich dieser selbstgestellten Aufgabe mit Andacht und Respekt genähert und die Motive und inhaltlichen Überschneidungen mit der Vorlage ebenso streng im Auge behalten wie deren Vermeidung an anderer Stelle.
Das glaube ich ihm. Und natürlich darf jeder so etwas tun, zumal wenn er sich wie Strunk 20 Jahre lang in unserer Literaturszene gehalten und immer wieder Bücher vorgelegt hat, die Beachtung fanden. Besonders berechtigt war diese bei seinem Tatsachenroman „Der goldene Handschuh“.

Spätestens bei „Zauberberg 2“ fällt mir aber nun etwas auf die Füße, was ich durchaus schon bemerkt, bisher aber ganz gut weggesteckt habe (ich habe in viele von Strunks Bücher nur hineingeschmökert, ohne sie vollständig zu lesen). Eine Handlung im Sinne einer Entwicklung gibt es bei diesem Autor nicht (abgesehen von seinen beiden ausdrücklich biographisch gefärbten Arbeiten). So sieht man ihm eben bei der Sache zu, die übrigbleibt: schnodderig-lustige Umschreibungen des Alleralltäglichsten entweder zu erfinden oder den Kodderschnauzen und Kieztypen in seiner Umgebung abzulauschen. Comedians machen sowas auch – wenn auch nicht immer so gekonnt wie Strunk und obwohl sich dieser ja gern mit dem Satz zitieren lässt: „Wo Comedy draufsteht, ist Scheiße drin!“
Was aber unterscheidet Belletristik von Comedy? Nun ja: ggf. eine Handlung, die die Gags bzw. Pointenversuche so anordnet, dass sie mehr ergeben als nur eine Abfolge von Gags und Pointenversuchen. Bei Heinz Strunk gibt es allenfalls eine Klammer (einen Ort, eine Unternehmung …), aber solche Klammern setzen Comedians auch gern oder täuschen sie wenigstens vor.
Die Folge solchen Vorgehens erleben wir im neuen Buch: es passiert praktisch nichts (logo, ohne Handlung …). Das ist ein Vorwurf, den viele (auch Strunk dieser Tage) Thomas Manns „Zauberberg“ selbst machen. Das wäre eine gute Pointe, aber angesichts von „Zauberberg 2“ ist mir gerade nicht nach Lachen zumute.

Ich habe nämlich noch ein anderes wiederkehrendes Problem. Alle Bücher dieses Autors (inklusive „Fleisch ist mein Gemüse“ und „Der goldene Handschuh“) haben nämlich ein gemeinsames Thema – Strunks einziges, wenn er ehrlich ist: müden Welt-Ekel. Einen Welt-Ekel, der immer aus dem Selbst-Ekel zu sprießen und sich von dort auf sämtliche Figuren gleichmäßig auszubreiten scheint, die dann alle wiederum nur dieses eine Thema haben. Alles läuft letztlich darauf hinaus, dass wir arme Würstchen sind – besonders in optischer Hinsicht.
Dabei sagt der Autor selbst sinngemäß: wer schriftstellerisch nur aus sich und dem eigenen Leben schöpft, wird sehr bald nichts mehr zu erzählen haben. Was seine Romane betrifft, sitzt er seit Jahrzehnten in dieser Falle, ohne es selbst gemerkt zu haben.
So werde ich mir als nächstes einen seiner Erzählungsbände anschaffen. Mit seiner Verteidigung dieser vom Publikum wenig geschätzten kleinen Form hat er unbedingt recht. Vielleicht mache ich ja bei der Lektüre die Feststellung, dass Heinz Strunk im Grunde gar kein Romancier, sondern ein Meister der Short Story ist.

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Ein Mann wie ein Tümpel

betr.: der Thriller „Tiefe Wasser“ (2022) gestern und heute im ZDF

Vic und Melinda sind das perfekte Ehepaar – an der Oberfläche. Sie hat viele Affären, er behauptet auf einer Party, einen der Liebhaber getötet zu haben. Ist das wirklich nur ein Party-Gag?
Erotik-Spezialist Adrian Lyne beobachtet die verhängnisvolle Beziehung von Vic und Melinda in der Hitze von New Orleans. Ben Affleck und Ana de Armas spielen das Paar, das in seiner eigenen, mörderischen Blase lebt. (ZDF-Text)

Als Ben Affleck Ende der 90er Jahre mit „Good Will Hunting“ auf der Bildfläche erschien – an der Seite seines Freundes, Co-Autors und Schauspielerkollegen Matt Damon – und auch noch wenig später in dem Edeltrash „Armageddon“ an der Seite von Bruce Willis, schien er der Anwärter auf den Job als „sexiest man alive“ zu sein. Dass er es darauf nicht sichtbar anlegte, war wiederum recht reizvoll. Auch sein Part in „Good Will Hunting“ war ja recht klein gewesen – aber sehr anständig gespielt.
Ich erinnere mich noch gut meiner Überraschung, als ich Ben Affleck in „Auf die stürmische Art“ kurz darauf wiedersah. Oberflächlich unverändert, verströmte er die erotische Energie eines Couch-Potatos. Und so ist es geblieben. Seine aufreizende Zurückhaltung war einer Muffigkeit gewichen, die nicht zu den kernigen Rollen passte, die er in den folgenden Jahren spielte, etwa den Marvel-Helden „Daredevil“ (2003). Inzwischen ist er in einem Spielalter angelangt, in dem sich mit dieser Aura etwas anfangen ließe (der Konjunktiv ist bewusst gewählt).
Für die männliche Hauptrolle Patricia Highsmiths berühmtem Ehedrama „Tiefe Wasser“ ist er im Grunde eine gute Besetzung, doch der leichte Lebensekel des Helden Vic sieht zu sehr wie der private von Ben Affleck aus.

Insgesamt schlägt sich die Verfilmung recht gut (die noch bis Ende Februar in der ZDF Mediathek abrufbar ist) sehr gut. Doch mit der Zeit kommen leichte Zweifel an der glücklichen Hand des Besetzungsbüros auf. Besonders als Tracy S. Letts als Don beginnt, hinter Vic herzuspionieren. So wie er diesen „Freund der Familie“ gestaltet, wirkt er, als hätte man ihn per KI aus einem TV-Film der 80er Jahre herüberkopiert.
Wie viel besser „Tiefe Wasser“ sein könnte, wird klar, wenn man sich – apropos TV-Film der 80er Jahre – den gleichnamigen ZDF-Zweiteiler von 1983 nochmals anschaut. Beide Versionen sind in ihrem jeweiligen medialen Kontext gleichermaßen aufwändige Umsetzungen der Vorlage, daher erscheint mir der Vergleich nicht unanständig. Bei allem Camp, der uns beim Wiedersehen mit diesem Fernseh-Kabinettstück befallen mag: die Schauspieler sind einfach wesentlich besser. Konstanze Engelbrecht als Melinda macht in ihrer geflissentlichen Verderbtheit einfach sprachlos, während Ana de Armas die unterschiedlichen Gesichter dieser Figur so spielt, als wären es unterschiedliche Rollen. Reinhard Glemnitz wirkt tatsächlich, als könnte er Vic gefährlich werden. Und dass Peter Bongartz den gelangweilten Neurotiker nur spielt, erlaubt ihm eine feine Nuancierung, die Affleck nicht mal aus dem Kino kennt.

„Was hat sie vor? Edgar, was hat Hortense vor? Warum ist sie plötzlich so sanft, Edgar?
Du musst auf der Hut sein, Edgar!“ – Die etwas längere TV-Version der
Geschichte erlaubt uns, Vics Selbstgesprächen zu lauschen.
(ZDF 1983)

Auch die Inszenierung macht ihre Sache besser. Die Freunde des Ehepaares sind keine reinen Knallchargen, und der Raum, in dem Vic seine geliebten Schnecken züchtet, sieht so aus, als könnte man dort tatsächlich Schnecken züchten. In der US-Version hat man das Gefühl, einen Folterkeller zu betreten, in dem außerirdische Invasoren ihre Schoten ausbrüten, wenn der Hausherr mal nicht da ist.

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