betr.: „Vortex“ von Gaspar Noé (F 2021)
Dario Argento wird nicht zur Hochkultur gerechnet und fällt geflissentlich unter den Tisch, wenn von „Meisterregisseuren“ wie Bertolucci, Bergman oder Scorsese die Rede ist. Das ist ein bisschen unfair, spielt aber in unseren Zeiten eh keine Rolle mehr. Mit dem Ansehen von Kompetenz, Expertise und Einordnung haben die sozialen Medien auch die Schubladen pulverisiert, in die man kulturelle Güter einsortieren kann. Das ist insgesamt bedauerlich, hat aber von Zeit zu Zeit auch mal sein Gutes, denn natürlich ist Dario Argento einer der bedeutenden Kinoregisseure des 20. Jahrhunderts, nur eben in der Nische des blutrünstigen italienischen Thriller- und Horrorkinos. (Der Großregisseur Quentin Tarantino würde diesen Namen sicher nicht übergehen.)
80jährig und älter aussehend hat sich Dario Argento vor einigen Jahren auf ein Projekt eingelassen, das auf mich wirkt als wollte er Buße tun für die vielen unschuldigen Menschen, die er – zumeist in der Blüte ihrer Jugend – vor der Kamera so grausam hat verrecken lassen. Es wäre eine spannende philosophische Frage, ob der Tod, den er in „Vortex“ von Gaspar Noé zu sterben hat, nicht grauenvoller ist als der seiner Figuren: alt werden bis am eigenen Leibe nichts mehr richtig funktioniert, aber noch lange genug leben, um die Frau, mit der man sein Leben verbracht hat, rapide in eine Demenz abgleiten zu sehen.
Das Traurige am Betrachten von „Vortex“ ist weniger sein tragischer Inhalt als die unbefriedigende Art, in der selbiger für uns aufbereitet wird. Und Argento spielt in dieser Fehlkonstruktion die entscheidende Rolle – unterstützt von zwei Kollegen, die ihre Arbeit wiederum ganz fabelhaft machen: Françoise Lebrun (im Film namenlos wie ihr Mann) und Alex Lutz als Stéphane, ihr missratener erwachsener Sohn. Die übrigen, sehr kleinen Rollen – und hier nimmt das Übel bereits seinen Lauf – sind außerordentlich nachlässig besetzt und angeleitet. Es ist wie so oft: Noé war zu faul, sich mit Dingen zu beschäftigen, die er unrichtigerweise für Kleinkram hielt. Er würde sich jederzeit auf die Wahrhaftigkeit herausreden, die von seinen Laiendarstellern ausginge (bla bla…).
Dass der Regisseur hier mit den Improvisationstechniken der Doku-Soap arbeitet, ist nicht verwerflich, nur fällt er damit seinem unerfahrenen Hauptdarsteller in den Rücken, der ein sehr schlechtes Französisch spricht und auf ein Textbuch angewiesen war. Argentos Wortfindungsschwierigkeiten sind komplett unglaubwürdig angesichts der 37 Jahre, die er als gebürtiger Italiener mit seiner Frau in Paris zusammengelebt, in denen er einen Sohn großgezogen und sich einen Namen als Fachautor und Intellektueller (!) gemacht haben soll. Die Überlegungen, die er anstellt, während er an seinem Buch arbeitet – eine philosophische Annäherung an die Traumqualität der Filmkunst an sich – lässt der herzlose Noé seinen greisen Gaststar stammelnd improvisieren. Die abendliche Szene, in der fachsimpelnde Kollegen zu Besuch kommen, versinkt in sinnlosem Gequatsche. Sogar die alltäglichen Versuche des alten Herrn, mit Frau und Sohn zu kommunizieren, machen den Eindruck, als hätte sich ein Autofahrer in eine Gegend verirrt, in der alle Menschen Klingonisch reden.
Noés hübsches Konzept – ein geteilter Bildschirm, der das durch die Krankheit und das Erreichen eines gewissen Alters unversehens getrennte Paar parallel begleitet und ihre Entzweiung sichtbar macht – wird von solchen Nachlässigkeiten immer wieder sabotiert.
Natürlich hat ein Film wie „Vortex“ in unserer überalterten Gesellschaft einiges zu erzählen. Doch um seinen Regisseur für Innovation und Inhaltlichen Wagemut zu loben, ist er einfach zu spät dran. Alles, was Noé hier verhandelt, haben wir in den vergangenen 65 Jahren in sehr unterschiedlichen Filmen schon viel besser gesehen: in Roman Polanskis „Ekel“, Alexander Paynes „About Schmidt“, Michael Hanekes „Liebe“, Bryan Forbes‘ „Flüsternde Wände“ und Dutzenden anderen; inzwischen ist noch Florian Zellers überaus beachtliches Demenzdrama „The Father“ hinzugekommen.
Außerdem gilt: Wer einige Konventionen des Film-Handwerks missachtet, der muss sich um die übrigen umso sorgfältiger kümmern. Daran kommt nicht mal ein Meister wie Michael Haneke vorbei.