betr.: „Wohnen“ von Doris Dörrie
Die Regisseurin und Autorin Doris Dörrie war mir wie auch ihre Kunst persönlich immer ein wenig fremd. Das macht ja nichts, wir können beide sehr gut damit leben.
Als ich nun von ihrem Essay mit dem Titel „Wohnen“ hörte, merkte ich sogleich auf. Und als ich erfuhr, dass uns das Thema offenbar beide sehr interessiert, und zwar unter diagonal unterschiedlichen Vorzeichen, war ich sehr neugierig auf diese pfiffige Fortschreibung meines Grundgefühls.
„Wohnen“ ist intelligent und witzig geschrieben, und es versorgt mich, der ich wahnsinnig gern wohne, mit etwas, was mir naturgemäß nur von kreativen Menschen erzählt werden kann, die weniger gern wohnen und in der Welt unterwegs sind, um dort Dinge zu erleben, die mir nicht widerfahren (nicht zustoßen) können. So hat alles seine Ordnung, und Doris Dörries Text und ich hatten eine sehr anregende Zeit miteinander.
Ein Essay unterhält mich besonders gut, wenn er eine andere Meinung vertritt als die meinige, frei nach dem Motto: wenn schon Widerworte, dann wenigstens kluge und gescheit vorgetragene. Dieses Lob kann ich „Wohnen“ leider nicht machen.
Ständig musste ich an Ottos berühmten Witz denken, laut dem das Stück zwischen dem rohen und dem verbrannten Teil immer am besten schmeckt. Bei Doris Dörrie gibt es diesen Teil nicht. Sie denkt viel über extreme Wohnformen nach und findet dafür gegeneinandergestellte Kampfbegriffe wie „Hausen“ vs. „Residieren“ oder „Kokon“ vs. „Palast“. Das Stück dazwischen, das Wohnen schlechthin, lässt sie nur naserümpfend als Illusion im … pardon … im Raum stehen.
Dabei hat die Autorin sich ein sehr ergiebiges Thema gewählt. Sie beschreibt sehr zutreffend, wie unbehaust die „Frau in der Gesellschaft“ nach alter (und längst nicht überwundener) Sitte gewohnt hat, als Hausfrau und Mutter: in einem Heim, das sie am Laufen hielt, in dem es für sie aber keinerlei persönliche Fläche gab.
Ich musste an zwei Unterhaltungen denken, die ich Tage zuvor mit guten Freunden geführt hatte. Mit einem davon gedachte ich mitfühlend des verpfuschten, tragischen, aufopferungsvollen Daseins der Kanzlergattin Hannelore Kohl, die sich schließlich das Leben nahm, nachdem sie jahrzehntelang der Welt eine fotogene Kulisse für ihren konservativen Gatten gestaltet und bevölkert hatte, der sie dann mit ihrer Lichtallergie buchstäblich allein Dunkeln sitzen ließ, um sich anderswo gegen seinen Rentnerstatus aufzulehnen. Dann sprach ich mit einer Freundin, leidenschaftliche Mutter zweier Schuljungen, die mir erzählte, dass der Dachboden, den sie gerade auf- und ausräumt, ihr erster persönlicher Platz im eigenen Haus sein wird.
Für solche Probleme findet Doris Dörrie treffliche Bilder in der Historie, der Literatur, der eigenen Familiengeschichte und auf Schritt und Tritt überall in der Welt. Doch ihrem Buch fehlt etwas, was jeder gute Essay braucht: Ironie.
Es gibt in diesem Text keinen Besitz, nur Ballast; keine Geborgenheit, nur Gefangenschaft; kein Arrangement, nur Selbstverrat; keinen inneren Frieden, nur eine Stagnation, der es zu entkommen gilt.
Die Autorin hat recht, wenn sie die alten Kinder-Küche-Kirche-Vorschriften als grausam entlarvt oder sich in einer filmreifen Erzählung über Wohnungsbesichtigungen in L.A. lustig macht, die sie regelmäßig besuchte, um – beruflich in Hollywood – in diesem Moloch etwas unter die Leute zu kommen. Die von ihr beschriebenen Maklerinnen – sie sind alle gleich! – erinnerten mich an Annette Benings tragikomische Darstellung in „American Beauty“.
Nach jedem Rundgang pflegte Dörrie die jeweilige überzüchtete Luxus-Immobilie immer ungefragt mit dem Hinweis abzulehnen, sie spüre einen bösen Geist in den Räumen. Dann wurde sie stets zum ersten Mal in ihrem schlunzigen Look von den Maklerinnen ernstgenommen, die ihr eilig und diskret von den Todesfällen erzählten, die in den unbezahlbaren Filmstarbehausungen stattgefunden hatten. Selbstverständlich sei das Haus hernach gründlich exorziert worden … Das ist sehr amerikanisch, wirklich grotesk und einfach zum Totlachen.
Leider blickt die Autorin mit der gleichen überzogenen Verachtung, die sie als nicht standesgemäße Wohnungssuchende in L. A. erlebt hat, auf jeden, der nicht aus dem Koffer leben möchte. Sie zieht eine gesunde Art, sich niederzulassen gar nicht in Betracht.
Das ist schade, denn seitenweise spricht sie mir zwischendurch sehr aus der Seele – etwa, wenn sie ihrer Verachtung für das Modell „Wohngemeinschaft“ Luft macht.
Aber den meisten Platz nehmen Umschreibungen dafür ein, was der Rest der Menschheit – alle außer der Autorin – in seinem törichten Versuch zu wohnen tatsächlich macht. Eine davon lautet: „Hier versuche ich so zu tun, als hätte ich ein Zuhause“. Es gibt unzählige solcher Synonyme.