Einblick mit Blindstellen

betr.: TV-Kritik „Inside The Simpsons“

Wie schwer es ist, einen Idioten zu zeichnen – auch davon handelt „Inside The Simpsons“.

Seit vielen Jahren verfolge ich die „Simpsons“ nur noch, wenn mir mal ein Halloween-Special unterkommt (was hierzulande nicht nach dem Kalender geschieht und daher Glücksache ist). Dennoch fühle ich mich dieser Trickserie nach wie vor sehr verbunden. Ich gedenke der großen Satire- und Comedy-Momente ihrer frühen Jahre, die für mich persönlich Klassiker-Status haben wie Chaplins „Brötchentanz“ oder Fred Astaires Stepptanz unter der Zimmerdecke. Ganz besonders bewundere ich die Serie für ihre musikalische Kompetenz, die stets sehr beiläufig daherkommt und jahrzehntelang in den Händen von Alf Clausen lag.
Entsprechend freudig greife ich zu den einschlägigen Begleitmedien, etwa dem Ausstellungskatalog „Gelber wird’s nicht“ von Alexander Braun oder eben der sechsteiligen TV-Doku von Brian Volk-Weiss.

Die „Inside“-Reihe ist großen Phänomenen der Popkultur gewidmet und wird hierzulande donnerstags auf ProSiebenMAXX sowie vom Streaming-Anbieter Joyn präsentiert. Seit 8 Staffeln erfreut sie durch die reichhaltige Materiallage und gute Kenntnisse, legt aber ein irres Tempo vor. In letzter Zeit hat der Informationsgehalt etwas nachgelassen – bei gleicher Geschwindigkeit – und die allgemeine Schnellsprecherei wird immer häufiger mit kleinen Witzchen ausgefüllt. Die deutsche Fassung hätte hier etwas Druck rausnehmen können, doch das wird leider unterlassen. Off-Sprecherin Anke Engelke (als amtierende deutsche Stimme von Marge Simpson der Reihe besonders verbunden) strengt sich und uns mit einer Performance an, die nahe an einer Trickstimme angesiedelt ist. Auf der Bildebene wiederholen sich unterdessen impertinent die wenigen Fotos, die es jeweils von den beteiligten Medienschaffenden zu sehen gibt (was angesichts der Tatsache, dass es sich um zeitgenössische Personen öffentlichen Interesses handelt, reichlich abstrus wirkt).

In Kulturdokus wird gerne so getan, als fielen gute Bücher vom Himmel. Hier wird der Arbeit der Autoren ungewöhnlicherweise der angemessene Raum gegeben.

Ungeachtet all dieser Abstriche, ist die Reihe „Inside The Simpsons“ ihre Zeit wert, zumal sie sich zu Beginn die Mühe macht, uns daran zu erinnern, wie es zu Beginn dieser Erfolgsgeschichte auf dem US-Fernsehmarkt zugegangen ist. So weist sie über ihr eigentliches Thema hinaus und verrät uns viel über das dieses umgebende kulturelle und gesellschaftliche Umfeld.
Meine Zuneigung und lange Beschäftigung mit der Materie lässt mich aber auch über die merkwürdigen Auslassungen stolpern. Über die Musik erfahren wir so gut wie nichts – außer, dass der gefürchtete Fox-Chef Barry Diller in einem Nebensatz das Engagement eines Orchesters verfügte. Und natürlich wird obligatorisch auf Danny Elfman hingewiesen, den prominenten Schöpfer der Titelmusik. Die Halloween-Binnenserie „Treehouse Of Horror“, die sich als eigenes Genre der Gegenwartskultur etabliert hat, bleibt praktisch unerwähnt, bis es zum Ende hin zur obligatorischen Frage an alle Anwesenden nach der persönlichen Lieblingsfolge kommt. Und auch die zahllosen VIPs aus Sport, Politik und Kunst, die sich in all der Zeit darum gerissen haben, sich mit eigener Sprech- uns Singstimme innerhalb der Serie auf die Schippe nehmen zu lassen, werden erst in diesem Zusammenhang wie ein Schmankerl erwähnt. Seltsam ominös bleibt die Rolle des Simpsons-Erfinders Matt Groening im aktiven Produktionsablauf – besonders angesichts der Tatsache, dass er die Familie und ihre Vornamen auf dem Weg zum Pitch eigentlich nur improvisiert hat und die Erschaffung des Simpsons-Kosmos (einschließlich der gelben Gesichtsfarbe) im Laufe der Doku unter den übrigen Kreativen aufgeteilt wird.
Andererseits hätte ich gerne auf die vielen oft wiederholten Tratschereien in den Statements verzichtet, die etwas selbstgefällig im Habitus von Running Gags ausgeteilt werden. 
Einer davon bezieht sich auf den glücklosen Regisseur einer Folge der ersten Staffel: Kent Butterworth (es geht um einen kackenden Pferdehintern …). Die wenigen kurzen Bilder, die wir von seinem Entwurf zu sehen bekommen (während von ihm selbst kein Foto präsentiert wird), haben mich richtig neugierig auf seine abgelehnte Arbeit gemacht.

Inside The Simpsons
Doku-Reihe USA 2022
, je 41 Minuten
Regie: Brian Volk-Weiss

1. Wie alles begann
In den 80er Jahren ist der Fernsehmarkt in den USA hart umkämpft. NBC, ABC und CBS sind die großen TV-Networks. Doch auch der neue Sender Fox, ein Ableger des alten Filmstudios, will sich behaupten. Zusammen mit James L. Brooks, Sam Simon und dem Underground-Zeichner Matt Groening erschafft Fox eine Reihe von kurzen Clips für die „Tracey Ullman Show“, die dem Publikum dabei helfen sollen zu erkennen, wann ein Sketch endet und der nächste beginnt.

2. Die Pilot-Folge
Die Clips innerhalb der „Tracey Ullman Show“ sind bald so beliebt, dass sich Fox entscheidet, die Simpsons als eigene Serie zu produzieren. Ein Zeichentrickformat zur besten Sendezeit bricht mit mehreren Konventionen, zumal große Konkurrenz wie die „Bill Cosby Show“ ausgestochen werden muss. Das Team arbeitet unter Hochdruck, doch der geplante Ausstrahlungstermin kann nicht gehalten werden. Zum Glück ist passend zum Kalender eine Weihnachts-Folge fertig, die als Teaser für das nächste Frühjahr dienen kann.

3. Im Writer’s Room
Die erste Staffel der Simpsons wird so erfolgreich, dass die Serie sofort verlängert wird. Ein Großteil des Verdienstes fällt den Autoren zu, die bei ihren einfallsreichen Skripten kontinuierlich am Puls der Zeit arbeiten. Während sich das Autorenteam bestens versteht, kommt es zwischen den drei Schöpfern der Serie zu Spannungen.

4. Kampf der Studios
Zu Beginn der Serie hatte die Firma Klasky Csupo die Animation besorgt. Doch das kleine winzige, unkonventionelle Studio gerät mehr und mehr an seine Grenzen, da der Sender immer aufwändigere Spektakel einfordert, die das idyllische Konzept der Familie in einer Kleinstadt aufbrechen. Innerhalb des Teams kommt es zu Differenzen, die die Zusammenarbeit mit Fox gefährden könnten. Das Studio wird ausgetauscht, das Gründungsteam zerrissen.

5. Vom Fernsehen ins Kino
Im Laufe der Jahre gibt es weitere Wechsel im Team rund um die Simpsons. Dadurch entwickelt sich die Serie stetig weiter, doch jeder einzelne Showrunner hat auch eine eigene Vision. Als Bill Oakley und Josh Weinstein das Projekt übernehmen, besinnen sie sich auf das Erfolgsrezept der Anfangsjahre zurück und schaffen es dadurch, die Serie noch größer zu machen.

6. Das Vermächtnis
Dreieinhalb Jahrzehnte lang haben die Simpsons massiven Einfluss auf die Popkultur der ganzen Welt. Über diesen Zeitraum hinweg mussten die Serie und ihre Entwickler zahlreiche Herausforderungen meistern, auch die allerschlimmste: sinkende Zuschauerzahlen. Doch der erzkonservative Sender Fox verdankt seinen Aufstieg ausgerechnet diesem aufmüpfigen Format – das ist die makabere Ironie – und lässt es weiter und weiterlaufen. Allerdings werden die Honorare gekürzt.

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Kino nicht mehr so wichtig

betr.: Nachtrag zum Beitrag https://blog.montyarnold.com/2022/03/17/20268/

Das alte Studiosystem in Hollywood hat noch überlebende Fürsprecher, wie die F.A.Z. heute berichtet.
„Am Lido“ liefen George Clooney und Brad Pitt über den Roten Teppich, um für ihren gemeinsamen Film „Wolfs“ zu werben, eine Komödie über zwei Tatortreiniger. Der Film sollte vom produzierenden Streaming-Dienst AppleTV+ eigentlich auch ins Kino gebracht werden, wird aber jetzt doch nur online gezeigt.
Clooney räumte angesichts dessen ein, seine Macht als Filmstar sei eindeutig im Fallen begriffen: „Die Wahrheit ist, als Brad und ich Jungschauspieler waren, gab es noch eine Form des Studiosystems. Ich hatte einen Deal mit Warner Brothers über fünf Filme in Folge, ich war da die ganze Zeit geschützt.“ Selbst als er „Batman & Robin“ drehte, der beim Publikum floppte, „war da immer noch eine Maschinerie, die das unterstützte“. Das sehe er heute für junge Schauspieler nicht mehr.
Clooney und Pitt hatten sogar eingewilligt, auf Gage zu verzichten, um „Wolfs“ auf die große Leinwand zu bringen. Kurz vor der Filmpremiere in Venedig gab Apple bekannt, es werde immerhin ein paar Aufführungen in ausgesuchten Kinos geben.
„So genau wollten es aber viele Medien in Venedig gar nicht wissen“, räumt die F.A.Z. ein. „Die meisten interessierten sich schon wieder stärker für die Begleiterinnen der beiden Hollywood-Stars.“
Na dann …


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Tierhaargespräche

geführt von Monty Arnold

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Die Rote Allergie

betr.: 105. Jahrestag der Gründung der Communist Party USA

Seit Charles Ruthenberg und der in Görlitz geborene Alfred Wagenknecht die Kommunistische Partei der USA gegründet haben, geht dortselbst ein Gespenst um: die Red Scare, die Rote Angst. Mit ihr ließ sich immer und lässt sich auch heute noch, nachdem das Gros der kommunistischen Regime gescheitert ist, großartig Wahlkampf machen. Man muss eine Sache nur als Sozialismus bezeichnen, und schon sehen viele US-Bürger selbst bei den gemeinnützigsten Ideen rot.
Zu den derart Überempfindlichen gehörte leider auch die Autorin Ayn Rand, die sich in ihrer sowjetischen Heimat immerhin ein veritables Kommunismus-Trauma eingefangen hatte.

Dennoch sind ihre Schriften stets auf- und anregend, bis heute überaus relevant und diskussionswürdig. Ihr zweiter großer Roman „Atlas wirft die Welt ab“ kam zu einem Zeitpunkt heraus, an dem der Kalte Krieg förmlich kochte (wenn das schiefe Sprachbild erlaubt ist), im Jahre 1957.
Es gehört für mich zum Faszinosum der Rand-Lektüre, dass ich mich regelmäßig über sie ärgere oder doch zumindest angerempelt fühle.
Einmal kreuzte sie sich mit einer Phase, in der ich mit großen Gewinn in die Kriminalgeschichten von Gilbert Keith Chesterton vertieft war (auch er ein Schriftsteller, der parallel als Philosoph tätig war). In „Atlas“ lässt Rand ihn nur flüchtig maskiert als miese Nebenrolle auftreten: „Gilbert Keith-Worthing war Charmers‘ Gast, ohne dass sie beide den Grund dafür erkennen konnten. Er war ein britischer Romanschriftsteller von Weltruhm, der vor dreißig Jahren sehr beliebt gewesen war. Seitdem machte sich niemand mehr die Mühe zu lesen, was er schrieb, aber er galt jedem als wandelnde Legende. Er wurde als tiefsinnig angesehen, weil er Dinge sagte wie: ‚Freiheit? Lasst uns doch aufhören, über Freiheit zu sprechen. Freiheit kann es nicht geben. Der Mensch kann nie von Hunger frei sein. Warum sollte er sich gegen die Tyrannei einer politischen Diktatur zur Wehr setzen?‘ Als ganz Europa die Ideen, die er predigte, umgesetzt hatte, siedelte er nach Amerika über. Mit den Jahren waren sowohl sein Schreibstil als auch sein Körper schwammig geworden. Mit siebzig war er nun ein fettleibiger alter Mann mit gefärbtem Haar und einem verächtlichen Zynismus, der von Sprüchen der Yogis über die Sinnlosigkeit allen menschlichen Strebens durchsetzt war. Kip Chalmers hatte ihn eingeladen, weil es ihm vornehm erschien. Gilbert Keith-Worthing war mitgekommen, weil er sonst nichts Besonderes vorhatte.“

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Der nette Sexiest Man

betr.: 75. Geburtstag von Richard Gere

Vor 40 Jahren war Richard Gere der präsenteste der „heißesten neuen Stars in Hollywood“, jener Liste, die alle paar Jahre aktualisiert wird. Er filmte fleißig und erwies sich als gut besetzbarer  Instinktschauspieler, zuverlässig und sympathisch, wenn auch ohne überragende Begabung. Man sah ihn einem albernen Remake („Atemlos“), einem Bibelschinken zur Unzeit („König David“), einer Menge lahmen Zeugs (von der Sorte „Cotton Club“), in einem etwas angestaubten Evergreen, der ihm auf den Leib geschneidert war („American Gigolo“ / „Ein Mann für gewisse Stunden“) und in einem Werk, das inzwischen wegen der Karriere seines Regisseurs in der allgemeinen Wertschätzung gestiegen ist, in dem aber die Landschaft die Hauptrolle spielt (Terrence Malicks „In der Glut des Südens“). Ein Film hat sich abseits solcher Einschränkungen als beständiges Qualitätsprodukt erwiesen, das man ohne Angst vor Trash noch heute anschauen kann: das romantische Drama „Ein Offizier und Gentleman“. Nicht nur Gere, auch das übrige Ensemble der jungen Kadetten hat den Vorzug, keinen Glamour zu verströmen, es wirkt uneitel. Demgegenüber steht die hochdekorierte Leistung von Louis Gossett jr., der den planvoll rasenden Schinder gibt. Wie wichtig beides für die Glaubwürdigkeit des Ergebnisses war, wird sich anhand des angekündigten Remakes besichtigen lassen, das auf Gossett verzichten muss und auf die dezente Besetzung der übrigen Rollen freiwillig verzichten wird – unzweifelhaft wird man eine Unmenge hochgezüchteter Muskelmasse zu sehen bekommen.  

In seinen mittleren Dreißigern verfügte Richard Gere über einen unverschämten Sex-Appeal, der völlig mühelos wirkte. Gere hatte offenbar nicht einen einzigen Tag im Sportstudio verbracht (was seinem Luftwaffen-Anwärter aus armen Verhältnissen in „Ein Offizier und Gentleman“ besondere Redlichkeit verlieh) und verfügte trotz seiner Attraktivität über eine Aura verletzlicher Bescheidenheit. Um diese Qualität zu würdigen, braucht man ihn nur mit seinem jüngeren Kollegen Tom Cruise zu vergleichen, der um die selbe Zeit in Hollywood aufstieg. Cruises überfliegerhaftes Dauergrinsen hat seiner Karriere zu Beginn sicher ebenso genutzt wie es sie letztlich gedeckelt und von der anerkennswerten Entwicklung in ein reiferes Fach abgeschnitten hat.
Mit dem simplen Crowd-Pleaser „Pretty Woman“ schaffte es Richard Gere am Beginn der 90er Jahre, in den Olymp der Publikumslieblinge aufzusteigen, die auch ohne unermüdliche Filmarbeit im Gedächtnis des Publikums überdauern und jedesmal freudig begrüßt werden, wenn sie sich für ein Alterswerk blicken lassen.
Diesen Status hat er sich redlich verdient.

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Alles in Butter im Ballettsaal

betr.: „A Chorus Line“ im First Stage Theater Hamburg

Die Unterzeile „Das Musical“ ist vollkommen überflüssig, da es sich hier um ein weltberühmtes Originalwerk des Genres handelt. Aber vielleicht hängt das mit den gleichen „lizenzrechtlichen Gründen“ zusammen, aus denen die 150minütige Vorstellung ohne Pause gespielt werden muss …

„A Chorus Line“ nach so langer Zeit wiederzusehen, hat Freude gemacht.* Rein musikalisch ist das Werk allem, was zur Zeit auf Hamburgs Musical-Bühnen zu erleben ist, haushoch überlegen, und die Produktion erweist sich dieses Vorsprungs als würdig.
Das Ensemble ist sympathisch (was bei dieser Geschichte nicht unwichtig ist), und die Wahl des Stoffes mit ihrem Probenbühnen-Schauplatz erlaubt der Inszenierung einen perfekten Realismus.
Als der hammerharte Besetzungschef Zach am Ende die Teilnehmer der Audition bekanntgab, die den Zuschlag erhalten, staunte ich darüber, wie gut ich seine Wahl nachvollziehen konnte – was sicher daran lag, dass Besetzung und Regie klug auf diesen Effekt hingearbeitet hatten.

Der Abend leidet hauptsächlich an etwas, was schon die Originalinszenierung von 1974 ausgezeichnet haben dürfte: die für mich unnötige Befrachtung des zweiten Aktes mit einer Ex-Beziehungskiste, die im vorliegenden Fall überdies ihre beiden Darsteller schauspielerisch überfordert. Der längste Teil des Abends – die kabarettistischen Bekenntnis-Songs und -Monologe der Anwärter – sind ein Hochgenuss.

Die Fan-Fachpresse lobte die neue Übersetzung von Robin Kulisch mit dem Hinweis darauf, wie angestaubt die alte von Michel Kunze sei. Das ist ein Irrtum. Kunzes Übersetzung ist nicht verstaubt (ebensowenig wie die Show an sich), sie war und ist ein elender Murks voller unsingbarer Reimgebilde und Stilblüten. Doch ein Platzhirsch wie Kunze entzieht sich sowohl eines Lektorats als auch jeder sachlichen Beurteilung.
Die neuen Liedtexte sind auch ohne einen solchen Vergleich recht gut gearbeitet. Aber wozu war es nötig, den „Indian Chief“ aus „At The Ballet“ zu entfernen?  Erstens ist der Begriff „Indianer“ nicht despektierlich (auch wenn das nicht jeder weiss), zweitens hätte das Wort „Häuptling“ alleine auch gereicht, und drittens: wenn man schon meint, eine solche Metapher ändern zu müssen, warum setzt man dann etwas so Dröges wie „Prinz“ ein, was überdies in die völlig falsche Richtung führt?

„A Chorus Line“ läuft noch bis zum 24. Oktober, Tickets unter https://firststagehamburg.de/produktion/a-chorus-line/

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* … zumal ich zu diesem Werk eine sehr persönliche Beziehung habe: https://blog.montyarnold.com/2015/01/16/der-tapfere-kleine-schallplattenfreund/

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Meckern im Mäusekino: „Ringo“

Filmrätsel

Die Autoren alter Film-Fachliteratur hatten nicht unsere heutige Möglichkeit, sich jederzeit jeden beliebigen Klassiker nochmals anzuschauen, wenn sie über ihn schreiben wollten. Die so entstandenen Fehler sind zumeist verzeihlich.
Und dann gibt es besondere Fälle …

Welche drei Fehler macht Reclams „Filmführer“ von 1973 in seiner Inhaltsangabe von „Ringo“ („Stagecoach“, auch „Höllenfahrt nach Santa Fé“)?

Auflösung folgt

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Vom Verfallsdatum der Kunst

Neulich schwärmte ich einem Kollegen von Tatum O’Neal vor, die als Halbwüchsige an der Seite ihres Vaters in der Komödie „Paper Moon“ auftrat. Sie bekam für ihr Leinwanddebüt sogleich einen Oscar, und ich kam nun gut 50 Jahre später zum selben Ergebnis. Ich sagte, ich sei wieder einmal platt gewesen angesichts ihres Spiels (ich habe den Film schon häufiger gesehen) und hielte dies für die größte schauspielerische Leistung eines Mädchens in einem kommerziellen Kinofilm überhaupt.
Mein Kollege war ausdrücklich dagegen, und die sprungbereite Grundsätzlichkeit seines Abtuns dieser Darbietung machte mich neugierig.
Das Ganze war ein Missverständnis. Auf mein Nachfragen stellte sich heraus, dass er sich für die schauspielerische Leistung im Grunde nicht interessierte. Er erklärte mir im Stil eines Juristen, warum der Wert von Tatum O’Neals Leistung heute nicht mehr gültig sei: weil der Film nun einmal sehr alt sei und heute schon deshalb nicht mehr überzeugen könne. Außerdem sei O’Neal ja die Tochter eines Schauspielers, und da sei ihr Talent ohnehin obligatorisch … und noch eine Reihe weiterer von mir nicht widerlegbarer Kriterien.
Auf meine provozierende Nachfrage, welche junge Kollegin in irgendeinem anderen Film denn besser gespielt habe, wusste er minutenlang keinen Namen zu nennen (es ging ihm ja auch ums Prinzip). Schließlich fiel ihm Kirsten Dunst in „Interview mit einem Vampir“ ein, ein Film, den wir beide seinerzeit im Kino miterlebt haben. Begeistert war er ganz offensichtlich nicht von diesem grundsoliden Beispiel, aber Dunst ist nun einmal ein deutlich aktuellerer Fall als Tatum O’Neal.

Abgesehen von der Bestätigung der traurigen Erkenntnis, dass alles Alte (also alles nicht selbst Miterlebte) bei den meisten Menschen zu Abwehrreaktionen führt – und das sogar beim Film, einer Kunstform, die ihren Reiz auch aus ihrer langfristigen Abrufbarkeit bezieht -, erinnerte ich mich daran, was Alfred Hitchcock im Zusammenhang mit „Rear Window“ erzählte. Er bezog sich auf Wsewolod Illarionowitsch Pudowkin „in einem seiner Bücher über Kunst der Montage. Da berichtet er über das Experiment, das sein Lehrer Lew Kuleschew gemacht hat: Er zeigt eine Großaufnahme von Iwan Mosjoukine und lässt darauf die Einstellung von einem toten Baby folgen. Im Gesicht Mosjoukines ist Mitleid zu lesen. Er nimmt die Einstellung des toten Babys weg und ersetzt sie durch ein Bild, das einen vollen Teller zeigt, und jetzt liest man aus der selben Großaufnahme Hunger. Genauso nehmen wir eine Großaufnahme von James Stewart. Er schaut zum Fenster hinaus und sieht zum Beispiel ein Hündchen, das in einem Korb in den Hof hinuntergelassen wird. Wieder Stewart, er lächelt. Jetzt zeigt man anstelle des Hundekörbchens ein nacktes Mädchen, das sich vor einem offenen Fenster dreht und wendet. Man nimmt wieder die selbe lächelnde Großaufnahme von James Stewart, und jetzt sieht er aus wie alter Lüstling.“
Diese anschauliche Darlegung über die Macht des Filmschnitts kommt mir immer in den Sinn, wenn im Film mit Tieren oder Kindern gearbeitet wird – und mich die Ergebnisse nicht vollauf überzeugen.
An Kirsten Dunst habe ich keine derartige Erinnerung, aber auch sie wird von der Magie am Schneidetisch in hohem Maße profitiert haben.
Bei unserer Diskussion kam mir vor allem Helena Zengel in den Sinn, die 2019 großen Applaus als für ihr Portrait eines verhaltensgestörten Mädchens in dem Drama „Systemsprenger“ erhalten hat. Die beachtliche Wirkung ihrer Wutausbrüche, ihres Schmollens, ihrer ganzen Totalverweigerung beruht auf dem Verhältnis, in das sie gesetzt wird: die Gegenschüsse auf besorgte, geduldige oder verzweifelte Erwachsene. Und auch das soll hier nicht verschwiegen werden: nichts ist schauspielerisch so leicht zu markieren wie Verweigerung und Muffigkeit aller Art (wiewohl es eine ganze Reihe prominenter Schauspielerkinder gibt, die auch damit überfordert sind.)
„Systemsprenger“ war gut gemacht, aber als Zeuge der Geburt einer jugendlichen Superbegabung habe ich mich nicht gefühlt. Ich dachte hin und wieder an James Stewart und an Umschnitte auf Hundekörbchen und fotografiertes Essen.

Tatum O’Neal spielt nicht nur Einzelbilder, die passend montiert werden müssen. Sie interagiert, taktiert und reagiert in längeren Einstellungen und hat sogar schweigend und von hinten gefilmt große Präsenz.* Sie moduliert ihre Stimmungen unentwegt (wie die Launen der Jugend es mit sich bringen) und bringt die typische Sehnsucht Heranwachsender zum Vorschein, als Individuum wahr- und ernstgenommen zu werden. Auch in Solo-Szenen – etwa, als sie vor dem Spiegel überprüft, ob sie schon weibliche Reize entwickelt und zu einem selbstkritischen Ergebnis kommt – ist sie komplex und bestrickend. Wann immer Tatum O’Neal ins Bild tritt, hat man das Gefühl, sie habe im Off unterdessen weitergelebt und weitergefühlt.
Klar: so etwas zeichnet jeden guten Filmschauspieler aus (auf der Bühne ist diese Disziplin etwas leichter zu verwirklichen), doch allzu oft sehen wir einfach nicht so genau hin.
Vor allem bei Kindern und Tieren.
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* Als Anspielpartnerin für Madeline Kahns denkwürdigen Monolog: https://blog.montyarnold.com/2019/07/29/13995/

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Tierhaargespräche

geführt von Monty Arnold

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Angebot an den Volksmund: „Neigungsnazi“

Inzwischen wählt etwa ein Drittel unseres Wahlvolks rechtsradikal oder nimmt sich das für die nächste Gelegenheit zumindest vor. Lange Zeit wurde so getan – nicht zuletzt von den Betroffenen -, es handele sich dabei um einen Akt des Protestes. Dieser ohnehin durchsichtige erweiterte Selbstbetrug ist inzwischen zwar nicht verschwunden, doch immerhin wird er von den Medien nicht mehr abgefragt.
Die Ermahnung, nicht gleich jeden als „Nazi“ zu bezeichnen, der bereit ist, einen solchen zu wählen und damit der Demokratie eine Absage zu erteilen, um den Begriff nicht zu banalisieren, mag Hand und Fuß haben, hilfreich ist sie nicht. Wenn man noch kein Faschist wäre, bloß weil man Faschisten gewählt und ihnen zugejubelt hat, hätten wir ja nach dem Krieg auch keine Entnazifizierung versuchen müssen.
Das wirklich Gefährliche sind bei aller Unappetitlichkeit nicht die Herrschaften von der AfD, sondern jene, die ihnen Macht verleihen.
Mein Vorschlag: wir hören damit auf, die Wähler solcher Leute ständig mit Satzbausteinen wie „nicht jeder, der, ist auch gleich“ in Schutz zu nehmen, und bezeichnen sie angemessen als: Neigungsnazis.

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