Wohnen geht gar nicht

betr.: „Wohnen“ von Doris Dörrie

Die Regisseurin und Autorin Doris Dörrie war mir wie auch ihre Kunst persönlich immer ein wenig fremd. Das macht ja nichts, wir können beide sehr gut damit leben.
Als ich nun von ihrem Essay mit dem Titel „Wohnen“ hörte, merkte ich sogleich auf. Und als ich erfuhr, dass uns das Thema offenbar beide sehr interessiert, und zwar unter diagonal unterschiedlichen Vorzeichen, war ich sehr neugierig auf diese pfiffige Fortschreibung meines Grundgefühls.
„Wohnen“ ist intelligent und witzig geschrieben, und es versorgt mich, der ich wahnsinnig gern wohne, mit etwas, was mir naturgemäß nur von kreativen Menschen erzählt werden kann, die weniger gern wohnen und in der Welt unterwegs sind, um dort Dinge zu erleben, die mir nicht widerfahren (nicht zustoßen) können. So hat alles seine Ordnung, und Doris Dörries Text und ich hatten eine sehr anregende Zeit miteinander.
 
Ein Essay unterhält mich besonders gut, wenn er eine andere Meinung vertritt als die meinige, frei nach dem Motto: wenn schon Widerworte, dann wenigstens kluge und gescheit vorgetragene. Dieses Lob kann ich „Wohnen“ leider nicht machen.
Ständig musste ich an Ottos berühmten Witz denken, laut dem das Stück zwischen dem rohen und dem verbrannten Teil immer am besten schmeckt. Bei Doris Dörrie gibt es diesen Teil nicht. Sie denkt viel über extreme Wohnformen nach und findet dafür gegeneinandergestellte Kampfbegriffe wie „Hausen“ vs. „Residieren“ oder „Kokon“ vs. „Palast“. Das Stück dazwischen, das Wohnen schlechthin, lässt sie nur naserümpfend als Illusion im … pardon … im Raum stehen.

Dabei hat die Autorin sich ein sehr ergiebiges Thema gewählt. Sie beschreibt sehr zutreffend, wie unbehaust die „Frau in der Gesellschaft“ nach alter (und längst nicht überwundener) Sitte gewohnt hat, als Hausfrau und Mutter: in einem Heim, das sie am Laufen hielt, in dem es für sie aber keinerlei persönliche Fläche gab.
Ich musste an zwei Unterhaltungen denken, die ich Tage zuvor mit guten Freunden geführt hatte. Mit einem davon gedachte ich mitfühlend des verpfuschten, tragischen, aufopferungsvollen Daseins der Kanzlergattin Hannelore Kohl, die sich schließlich das Leben nahm, nachdem sie jahrzehntelang der Welt eine fotogene Kulisse für ihren konservativen Gatten gestaltet und bevölkert hatte, der sie dann mit ihrer Lichtallergie buchstäblich allein Dunkeln sitzen ließ, um sich anderswo gegen seinen Rentnerstatus aufzulehnen. Dann sprach ich mit einer Freundin, leidenschaftliche Mutter zweier Schuljungen, die mir erzählte, dass der Dachboden, den sie gerade auf- und ausräumt, ihr erster persönlicher Platz im eigenen Haus sein wird.
Für solche Probleme findet Doris Dörrie treffliche Bilder in der Historie, der Literatur, der eigenen Familiengeschichte und auf Schritt und Tritt überall in der Welt. Doch ihrem Buch fehlt etwas, was jeder gute Essay braucht: Ironie.
Es gibt in diesem Text keinen Besitz, nur Ballast; keine Geborgenheit, nur Gefangenschaft; kein Arrangement, nur Selbstverrat; keinen inneren Frieden, nur eine Stagnation, der es zu entkommen gilt.

Die Autorin hat recht, wenn sie die alten Kinder-Küche-Kirche-Vorschriften als grausam entlarvt oder sich in einer filmreifen Erzählung über Wohnungsbesichtigungen in L.A. lustig macht, die sie regelmäßig besuchte, um – beruflich in Hollywood – in diesem Moloch etwas unter die Leute zu kommen. Die von ihr beschriebenen Maklerinnen – sie sind alle gleich! – erinnerten mich an Annette Benings tragikomische Darstellung in „American Beauty“.
Nach jedem Rundgang pflegte Dörrie die jeweilige überzüchtete Luxus-Immobilie immer ungefragt mit dem Hinweis abzulehnen, sie spüre einen bösen Geist in den Räumen. Dann wurde sie stets zum ersten Mal in ihrem schlunzigen Look von den Maklerinnen ernstgenommen, die ihr eilig und diskret von den Todesfällen erzählten, die in den unbezahlbaren Filmstarbehausungen stattgefunden hatten. Selbstverständlich sei das Haus hernach gründlich exorziert worden … Das ist sehr amerikanisch, wirklich grotesk und einfach zum Totlachen.
Leider blickt die Autorin mit der gleichen überzogenen Verachtung, die sie als nicht standesgemäße Wohnungssuchende in L. A. erlebt hat, auf jeden, der nicht aus dem Koffer leben möchte. Sie zieht eine gesunde Art, sich niederzulassen gar nicht in Betracht.

Das ist schade, denn seitenweise spricht sie mir zwischendurch sehr aus der Seele – etwa, wenn sie ihrer Verachtung für das Modell „Wohngemeinschaft“ Luft macht.
Aber den meisten Platz nehmen Umschreibungen dafür ein, was der Rest der Menschheit – alle außer der Autorin – in seinem törichten Versuch zu wohnen tatsächlich macht. Eine davon lautet: „Hier versuche ich so zu tun, als hätte ich ein Zuhause“. Es gibt unzählige solcher Synonyme.

Veröffentlicht unter Gesellschaft, Literatur, Rezension | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Der Song des Tages: „Green-Up Time“

… von Kurt Weill und Alan J. Lerner komponiert für das Musical „Love Life“ und ganz besonders trefflich von Lotte Lenya auf Schallplatte verewigt.

Veröffentlicht unter Musicalgeschichte, Musik | Verschlagwortet mit , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Psycho Today

betr.: Jens Wawrczeck hat aus der Romanvorlage zu Alfred Hitchcocks „Psycho“ ein Hörbuch gemacht.

Machen wir uns nichts vor: all die „Unsterblichen“ des Kinos sind heute vergessen (abgesehen vielleicht von der Monroe), und kein heute 30jähriger kann noch einen einzigen „Klassiker“ nennen, der deutlich vor seiner eigenen Lebensspanne gedreht wurde. Ohne „Psycho“ wäre selbst Alfred Hitchcock nicht der geflügelte Name, der er heute ist. „Psycho“, dieser unverwüstliche Kultfilm in einem prallen Repertoire aus verdienten Erfolgen und historischen Leistungen, ist der Reißnagel, der Hitch in der heutigen schnelllebigen Popkultur befestigt. Ohne ihn hätte sie seinen Regisseur längst ebenso gründlich fallenlassen wie sie es längst mit Billy Wilder und Orson Welles gemacht hat. Was „Vertigo“ den Cineasten ist, das ist „Psycho“ der wirklichen Welt. Ausgerechnet der einzige Horrorfilm im Werk des „Master of Suspense“ (was mit „Meister der Spannung“ nur nachlässig übersetzt ist), dieses mit kleinem Budget und leichter Hand wie ein Fernsehfilm produzierte Zwischenwerk, hat all die Worte, Bilder, Typen und Töne in die Welt gesetzt, die der heutige Mediennutzer braucht, um sich eines so uralten Filmes (und seines Schöpfers) zu erinnern, der überdies in Schwarzweiß gedreht wurde.
„Psycho“ brachte uns den Duschenmord mit der Jingle-tauglichen Musik von Bernard Herrmann, die Mumien-Mutter mit dem Messer, diese Schlusspointe, die inzwischen jeder kennt und die trotzdem das Vergnügen, diesen Film immer wieder mit knisternder Gänsehaut anzuschauen, nicht spoilert. Und er schenkte uns Norman Bates, den hinreißenden jugendlichen Psychopathen, der dem hoffnungsvollen und bis dato überaus vielseitigen Anthony Perkins die Rolle verpasste, von der er fortan nicht mehr loskam. Wie schon in „Marnie“ (der Folge 4 dieser Hörbuchreihe), hat Hitchcock auch diese männliche Hauptfigur etwas jünger und einnehmender gestaltet als es die Vorlage angelegt hatte. Das reale Vorbild war umso finsterer: Ed Gein war ein nekrophiler Transvestit, der nicht die Kleider seiner Opfer anzog, sondern gleich ihre Haut. Und später das Vorbild für weitaus grauenvollere Ikonen des Kinos: neben „Leatherface“ aus dem „Texas Chainsaw Massacre“ und „Buffalo Bill“ aus „Das Schweigen der Lämmer“ ist Norman Bates eine geradezu poetische Figur. Und doch steht „Psycho“ noch immer erhobenen Hauptes in einer Reihe mit unseren Zeitgenossen.
„Psycho“ ist eine solche Energiequelle der Inspiration, dass sogar seine Fortsetzung – zwei Jahre nach Hitchcocks Tod herausgekommen und ihrerseits der Startschuss für eine Unzahl von schwächeren, aber wirkungsvollen Nach- und Neuerzählungen – ein beachtlicher Film geworden ist. Er wartet mit einem Anthony Perkins auf, der wirklich aussieht, als hätte er die 22 Jahre unterdessen in einer Irrenanstalt verbracht. Und wir sind begierig, das Psycho-Haus ein weiteres Mal zu betreten – und die Winkel und Räume zu besichtigen, auf die wir zuvor keinen Blick erhaschen konnten. Nur einer freute sich nicht darüber: der ansonsten begeisterte Kritiker des „Tip“ klagte, dass „die durch allzu perfektes ‚Remake‘ der Hitchcock’schen Kulisse aufkommenden Erinnerungen an dessen Meisterwerk manchem herzlichen Lacher einfach im Wege stehen.“
Stimmt ja – witzig ist „Psycho“ auch noch. Vor allem, wenn man ihn zum zweiten Mal sieht.

Veröffentlicht unter Fernsehen, Film, Hörbuch, Krimi, Literatur | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Der Song des Tages: „Dickie“

betr.: 64. Geburtstag von Dirk Bach

Ein Kollege erzählte mir, er hätte am Todestag des von uns beiden schmerzlich vermissten Dirk Bach in einer Aufführung des selten gespielten Musicals „Dear World“ gesessen. Dessen humanistisch-ökologische Botschaft hätte Dirk sicher gemocht. Doch es gab noch ein deutlicheres himmlisches Augenzwinkern.
Am Ende des ersten Aktes kommt es zu einem musikalischen Selbstgesprächs-Trio dreier alter Damen (in der Urfassung von 1969 u.a. Angela Lansbury), der „Tea Party“.* Eine von ihnen hat einen imaginären Hund namens Dickie. Sie schwört, er sei anwesend, obwohl ihn niemand sehen kann. Für Dirk, den seine Freunde ebenfalls „Dickie“ nennen durften, gilt gewissermaßen dasselbe.

„Dear World“ ist einer der beiden legendären Misserfolge von Jerry Herman, der einen seiner größten Erfolge mit einem seiner schlichtesten Produkte hatte: „La Cage Aux Folles“.
___________
* Siehe auch https://blog.montyarnold.com/2017/11/21/the-glorious-theater-lyrics-of-monty-arnold-22-tea-party/

Veröffentlicht unter Fernsehen, Musicalgeschichte | Verschlagwortet mit , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Prima vista 0,5: Prolog aus „Das Apartment“

betr.: 37. Todestag von I.A.L. Diamond

Einen Begrüßungsjoke baute der wichtigste Mitarbeiter von Starregisseur Billy Wilder gleich in seinen Namen ein. Aus Izzy machte er „I. A. L.“, das steht ursprünglich für „Interscholastic Algebra League“. In einem Land, dessen Schulsystem traditionell auf Buchstabierwettbewerbe versessen ist, bekennt sich einer der erfolgreichsten humoristischen Drehbuchautoren zur Mathematik. Diese Neigung überträgt er auch auf einen seiner Helden, den Protagonisten von „The Apartment“.

Am ersten November 1959 hatte New York 8.042.783 Einwohner. Würde man alle diese Menschen, eine Durchschnittsgröße von einem Meter fünfundsechzig zugrunde gelegt, der Länge nach aneinanderreihen, so würden sie vom Times Square bis zum Marktplatz von Karachi in Pakistan reichen. Solche Zahlenbilder sind mir geläufig, weil ich bei einer Versicherungsgesellschaft arbeite, der „Consolidated Life“ in New York, eine der größten Gesellschaften in den USA. Unser Zentralbüro hat 31.259 Angestellte, das sind mehr als die gesamte Bevölkerung von Natchez / Mississippi. Ich arbeite im neunzehnten Stock, Prämienberechnungsabteilung für allgemeine Policen, Sektion B, Tisch 861.
Mein Name ist C.C. Baxter, C für Calvin, C für Clifford, aber meistens werde ich „Buddy“ genannt. Bei „Consolidated“ bin ich seit drei Jahren, zehn Monaten, ich bringe wöchentlich 94 Dollar 70 nach Hause.
Die Arbeitszeit in unserer Abteilung geht von acht Uhr fünfzig bis fünf Uhr zwanzig. Sie ist in jedem Stock verschieden, so dass sechzehn Fahrstühle die 31.259 Angestellten befördern können ohne daß es Verkehrsstörungen gibt. Ich bleibe allerdings häufig länger im Büro und mache eine oder zwei Überstunden, besonders bei schlechtem Wetter. Nicht etwa deshalb, weil ich übertrieben ehrgeizig wäre, nein, einfach um die Zeit totzuschlagen, bis es auch für mich soweit ist, dass ich nach Hause gehen kann.
Sie müssen nämlich wissen, ich habe ein kleines Problem mit dem Appartement in dem ich wohne. Es liegt in der westlichen 67. Straße nicht weit vom Central Park, meine Miete beträgt 85 Dollar im Monat – bis zum letzten Juli als Mrs. Lieberman, die Hauswirtin, mit einer gebrauchten Klimaanlage ankam, waren es nur 80. Es ist ein nettes Appartement, nichts Übertriebenes, aber sehr gemütlich. Genau das richtige für einen Junggesellen. Der einzige Nachteil ist, ich kann nicht immer hinein, wenn ich möchte.

So klingt der Eröffnungsmonolog von Billy Wilders berühmter Tragikomödie „Das Apartment“ in der deutschen Synchronfassung, die Erika Streithorst für Ultra-Film in Berlin eingerichtet hat.
Als Cornelius Schnauber das Drehbuch von Billy Wilder und I. A. L. Diamond 1987 auf Deutsch herausbrachte, stellte er eine neue Übersetzung her, um die kleinen Abweichungen aufzufangen, die sich bei der deutschen Bearbeitung zwangsläufig ergeben: etwa durch die geringere Silbenzahl im Englischen und die Anpassungen an die Lippenbewegungen. Trotz dieser Richtigstellungen (einige sind im vorliegenden Vergleich aufzuspüren), habe ich noch immer das subjektive Gefühl, ein Abdruck des Dialogbuchs wäre mir lieber gewesen. Im Vergleich wirken die Synchrondialoge immer flüssiger und alltagsnäher auf mich als die sinngemäßen Übersetzungen, wie es sie sehr gelegentlich in Buchform gegeben hat.

So liest sich der obige Prolog in der Druckfassung von 1987:

Am 1. November 1959 betrug die Bevölkerung von New York insgesamt 8.042.783 Personen. Wenn man all diese Leute der Länge nach aneinanderlegen würde, wobei man eine Durchschnittsgröße von 172 cm annimmt, dann würden sie vom Times Square bis in die Vororte von Karachi in Pakistan reichen.
Ich kenne solche Fakten, weil ich für eine Versicherungsgesellschaft tätig bin, nämlich der Consolidated Life in New York. Wir zählen zu den fünf größten Unternehmen des Landes … im vergangenen Jahr verkauften wir Polizzen im Wert von 9 Komma 3 Milliarden Dollar. In unserer Zentrale arbeiten 31.259 Angestellte, das ist mehr als die Gesamtbevölkerung der Stadt Natchez in Mississippi oder Gallup, New Mexico.
Ich arbeite im 19. Stockwerk … in der Abteilung für Normalpolizzen, Prämienberechnungsabteilung, Sektion W … Schreibtisch Nummer 861.
Mein Name ist C.C. Baxter – C wie Calvin und C wie Clifford … aber die meisten Leute nennen mich Bud. Ich bin seit drei Jahren und zehn Monaten bei Consolidated Life. Ich habe in der Zweigstelle in Cincinnati angefangen, wurde dann nach New York transferiert. Mein Nettogehalt beträgt 90,70 Dollar in der Woche, dazu kommen die üblichen Sozialleistungen.
Arbeitszeit in unserer Abteilung ist von 8.50 bis 5.20 Uhr … aber von Stockwerk zu Stockwerk gestaffelt, daß die 16 Aufzüge die 31.259 Angestellten transportieren können, ohne daß es zu einem Verkehrschaos kommt. Was mich betrifft, so bleibe ich oft noch im Büro und arbeite ein oder zwei Stunden extra … besonders bei schlechtem Wetter. Es ist ja nicht so, daß ich besonders ehrgeizig wäre … ich tu’s nur, um die Zeit totzuschlagen, bis es soweit ist, daß ich nach Hause gehen kann. Ich habe nämlich, nun ja, ein kleines Problem mit meinem Apartment …
Ich wohne in den West Sixties, nur einen halben Häuserblock vom Central Park entfernt. Ich bezahle monatlich 84 Dollar Miete. Bis Juli vorigen Jahres waren es noch 80, aber dann hat meine Vermieterin, Mrs. Lieberman, eine gebrauchte Klimaanlage eingebaut. Es ist ein richtig nettes Apartment … nichts Aufregendes … aber doch gemütlich … gerade recht für einen Junggesellen. Es gibt nur ein Problem: Ich kann nicht immer hinein, wann ich möchte.

Veröffentlicht unter Film, Mikrofonarbeit | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Der Tunnelblick in der Kunst

Eine Eigenart, die im wirklichen Leben unbedingt von Nachteil ist, macht der Kulturjournalist Kai Luehrs-Kaiser in der Kunst als eine Tugend aus: den Tunnelblick. In den unterschiedlichsten künstlerischen Disziplinen haben es einige darin sogar zu echter Meisterschaft gebracht: „Durch ein sehr enges Zielfernrohr bekommen sie nur einen sehr schmalen Realitätsausschnitt in den Blick bekommen, können diesen jedoch genauer beschreiben als jeder andere. Mitunter haben sie diesen Realitätsausschnitt sogar selbst definiert und in die Welt gesetzt.
Spontan fallen mir fast nur tote Künstler als Beispiele ein. Die Romane von Otto Flake haben mir meistenteils eben deswegen so großes Vergnügen gemacht, weil sie immer denselben, in diesem  Fall patriarchalisch altmodischen Blick  eines  Schwerenöters von Welt werfen. Es sind alles kleine Casanova-Wiedergänger zwischen Weimarer Republik und Adenauerzeit. Im Theater und im Film derselben Zeit war Curt Goetz als „Revolutionär im Frack“ ein weiteres Beispiel eines altmodischen Meisters des Tunnelblicks. Bei ihm sind es immer dieselben wiederum patriarchalischen Komödien eines Mannes, der durch Humor der eigenen Depression Herr zu werden versuchte. Und weil sein Humor der Melancholie abgerungen war, sei es auch so heilsam ihm zu folgen, wie es seine Frau Valérie von Martens so rührend beschrieben hat. Es sind dies keine Künstler der ersten Garnitur, aber in der Fähigkeit, durch einen beschränkten und eben dadurch konzentrierten Blick eine  Meisterschaft auszubilden und in der Enge die eigene Unendlichkeit zu finden, sind sie erstaunlich.
Die sogenannten „Alten Meister“ (also die Maler des 14. – 17. Jahrhunderts) waren in diesem Sinne alle Meister des Tunnelblicks. Einige der größten Schriftsteller – zum Beispiel Franz Kafka, Samuel Beckett oder Jane Austen – waren in diesem Sinne ganz eindeutig Tunnelblick-Virtuosen. Die Musik hat für Tunnelblickkünstler immer das reichlichste Betätigungsfeld abgegeben. Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler oder Hans Knappertsbusch, aber auch Pianisten wie Walter Gieseking, Vladimir Horowitz oder Glenn Gould hatten sämtlich eine so enge, so spezifische Ästhetik, dass sie damit nicht einmal in ein allen Repertoires ankommen konnten. Wo sie aber Fuß fassten, da ergab sich ihre Originalität von selbst.“ 

Veröffentlicht unter Literatur, Medienphilosophie, Musik, Theater | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

One Trick Zirkuspferd

betr.: „L’Argent de la Vieille“ mit Amanda Lear

Amanda Lear war eine archetypische Ikone des Disco-Zeitalters und ist eine der letzten Überlebenden dieser Ära, die sich noch in Topform präsentiert. Dem Trash allzeit näher als dem Camp, wirkt ihre Lebensgeschichte erstaunlich frisch, wenn man die aktuellen Genderdebatten bedenkt. Das stets nebenbei deutlich dementierte und gleichsam gepflegte Gerücht, sie sei ursprünglich ein Mann gewesen, hat die Dalí-Muse allzeit mit einem Glitzer umgeben, der den Bohemiens ein exotisches Kribbeln und den Kleinbürgerlichen ein wohliges Gruseln bereitete.

Zur Zeit ist die Diva auf der Boulevard-Bühne zu sehen. In Paris spielt sie die Titelrolle in der Klamotte „L’argent de la vieille“, die soeben auch aufgezeichnet wurde.
Bei dem flachen, auswechselbaren Stück handelt es sich tatsächlich um ein Werk mit Vergangenheit, das auch unter dem Titel „The Game“ kursiert. Bette Davis hat Anfang der 70er Jahre in einer Verfilmung mitgespielt, mochte das Ergebnis allerdings nicht, weil man ihr nicht deutlich genug gesagt hatte, dass „The Scientific Cardplayer“ auf Italienisch gedreht und später synchronisiert werden würde.
Der Inhalt: Eine exzentrische, der Spielsucht verfallene Milliardärin (im Film noch lediglich eine Millionärin) liebt es, Mitspieler aufs Kreuz zu legen, die sich den Einsatz gar nicht leisten können. Jedes Jahr reist sie mit ihrem Sekretär und Ex-Liebhaber (im Film: Joseph Cotten) nach Rom (im aktuellen Stück: Paris), um ein Paar in Geldnot im Kartenspiel zu schlagen. Obwohl sie üblicherweise verlieren, um der alten Dame eine Freude zu machen, ist die weibliche Hälfte diesmal ausdrücklich dagegen und besteht darauf, den Gewinn zu kassieren. Die Alte gewinnt – zumal sie nicht fair spielt – und wird zur Strafe zum Abschied mit einem vergifteten Kuchen beschenkt.

Mein Begleiter bemängelte Plastiklampen und sonstigen Nippes aus dem Supermarkt in der Einrichtung der angeblichen Milliardärsunterkunft. Ich fand das nicht so tragisch: die Requisiten spielten uns eben auch etwas vor. Einig waren wir uns bei der Energie des fünfköpfigen Ensembles. Dieses ging mit einer Spielfreude ans Werk, die ich sofort dem mediterranen Temperament zuschrieb, die aber auch jede deutsche Theateraufführung schmücken würde, Boulevard oder nicht.

Veröffentlicht unter Allgemein | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Despotenbingo

betr.: 11. Todestag von Gabriel García Márquez

Gabriel García Márquez hat die folgende Anekdote aus dem September 1955 überliefert:

In meinen frühen Jahren lebte ich jung und unbekannt in Paris, wie viele tausend andere lateinamerikanische Emigranten, darunter der kubanische Lyriker Nicolás Guillén, den die Diktatur Batistas ins Exil getrieben hatte. Guillén hatte die Angewohnheit, bereits am frühen Morgen die Zeitungen durchzulesen und seinen Nachbarn die bei der Lektüre gewonnenen neuesten Erkenntnisse über Lateinamerika durch lautes Rufen aus dem Fenster mitzuteilen. Einmal beschränkte er sich allerdings auf einen einzigen Satz: Der Kerl ist gestürzt! Daraufhin geriet die ganze Straße in Aufruhr. Jeder von uns glaubte, dass der gestürzte Diktator der seine sei. Die Argentinier dachten, es sei Juan Domingo Perón, die Paraguayer dachten, es sei Alfredo Stroessner, die Peruaner dachten es sei Manuel Odría (Manuel Apolinario Odría Amoretti), wir Kolumbianer dachten, es sei Rojas Pinilla (Gustavo Rojas Pinilla), die Nicaraguaner dachten, es sei Anastasio Somoza (Anastasio Somoza Debayle), die Venezolaner dachten, es sei Marcos Pérez Jiménez, die Guatemalteken dachten, es sei (Carlos) Castillo Armas, die Domenikaner dachten, es sei Rafael Trujillo (Rafael Leónidas Trujillo Molina), und die Kubaner dachten, es sei Fulgencio Batista. Tatsächlich war es Perón.

Veröffentlicht unter Gesellschaft, Literatur | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Die wiedergefundene Textstelle: „Ein Fischerdorf“

Eskortiert von den johlenden und lachenden Jungs, galoppierte der Esel mit seiner silbrig glänzenden Fracht den Kai entlang und eine Dorfstraße hinauf, bis sie schließlich den Kiesstreifen erreichten, jene Stelle, wo das Bachwasser seine Farbe wechselte. Dort verarbeiten zwanzig Leute beiderlei Geschlechts und jeden Alters den Fisch für den Markt.
Makrelen, schön wie Feuergeätzte Silbertabletts, wurden zuerst auf einen langen Tisch gelegt, an dem so viele Frauen tätig waren wie Ellbogen Platz fanden. Jede von ihnen konnte einen Fisch mit nur zwei Messerschnitten putzen. Dann kamen die Wäscher, gebeugt über Tröge voll mit fließendem Wasser aus dem Bach, die den Fisch säuberten.
Nachdem er gewaschen war, wurde der Fisch zu einer Gruppe von Mädchen mit Messern gebracht, die jeden einzelnen auf eine Art zuschnitten, dass er geplättet aussah wie man es vom Frühstückstisch kennt. Und nach den Mädchen kamen die Männer und Jungen, die jeden Fisch gründlich mit ganzen Händen voll grobkörnigem Salz einrieben, das weißer aussah als Schnee und im Tageslicht über und über funkelte wie Diamanten. Zuletzt kamen die Packer, welche die Kunst beherrschten, nicht zu wenige und nicht zu viele Makrelen in einem Fass zu verstauen.
Ein mächtiger Baum breitete seine Äste über die Stätte. Der Schattenwurf der Blätter hatte etwas Sakrales, als wäre der Ort eine der Arbeit geweihte Kapelle. Schweigen beherrschte die Gemeinde. Die Frauen am Großen Tisch arbeiteten konzentriert und mit gebeugten Köpfen. Ihre alten Röcke waren gerafft und ließen derbe Arbeitsschuhe sehen, und ihre nackten Fesseln wirkten in den weiten Schuhen dünn wie Strohhalme.
Jenseits der Mauer, auf der ansteigenden Straße, waren die Insulaner in ihren Jerseys zu sehen. Kräftig gebaut mit langen gelben Bärten. Sie schritten langsam zwischen Gänsen und Kindern dahin. Auch sie sprachen wenig. Sie rauchten finster, ehrwürdig und still ihre kurzen Pfeifen.

Stephen Crane war Abenteurer, Kriegskorrespondent und Pionier der amerikanischen Moderne. Er wurde 1871 in Newark in New Jersey geboren. Seinen Ruhm als Schriftsteller begründeten sein Bürgerkriegsroman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ und die Kurzgeschichte „Das offene Boot“, in der er seine Erlebnisse beim Untergang des Dampfers „Commodore“ vor der Küste Floridas verarbeitete. In seinem kurzen Leben – er starb im Alter von 28 Jahren an Tuberkulose – schrieb Crane Lyrik, Romane und Erzählungen, deren Helden die kleinen Leute sind: Obdachlose, Straßenmädchen, Fischer, Soldaten, Menschen aus den Elendsvierteln der Großstädte. Viele Rezensenten sehen in Crane daher den ersten amerikanischen Naturalisten. Die Nähe seiner Texte zur Reportage, weist aber auch schon ins 20. Jahrhundert und macht ihn zum Wegbereiter von Autoren wie Ernest Hemingway. Die „Irish Notes“, aus denen die Textpassage stammt, entstanden 1897.

Veröffentlicht unter Literatur | Verschlagwortet mit , , , , , , | Schreib einen Kommentar

April in Paris

Zum ersten Mal seit mehr als 30 Jahren habe ich Paris besucht. Von allen Weltmetropolen, die ich bisher persönlich betreten habe, war diese stets die märchenhafteste für mich, die mir zudem tatsächlich bewohnbar erschien – eine pikante Mischung. Außerdem erlebte ich dort in meiner Jugend das dicke Ende einer Romanze, die im Elsass begonnen hatte; dazu passend lief im Radio „Les histoires d‘amour finissent mal … en general“ von Les Rita Mitsouko.
Die Schönheit dieser Stadt, die malerische Aura der dort umherwuselnden Menschen (Fremde wie Einheimische) hat mich wieder entzückt – wenn ich auch seit meinem letzten Besuch in Frankfurt am Main nicht mehr beständig solche Furcht hatte, achtlos oder absichtlich über den Haufen gerannt zu werden. Das hatte ich so nicht in Erinnerung. (Erinnern sie sich an die Szene aus „Carnival Of Souls“, in der die Heldin ein Bekleidungsjaus besucht? So ähnlich kam ich mir auf dem erstaunlich engen Trottoir vor.) Die größte Überraschung bereitete mir jedoch das Ein- und Ausatmen. Die Luft war so stickig und übelriechend, dass mich – hätte sich dieser Wert nur geringfügig weiter verschlechtert – vermutlich Erstickungsängste befallen hätten. Das gab dem Adjektiv „atemberaubend“ eine echte Kalauerqualität.
Paris bleibt ein berauschender Ort für mich, aber seine Bewohnbarkeit gehört ab jetzt – wie die Liebe – zum märchenhaften Teil.

Veröffentlicht unter Film, Gesellschaft, Monty Arnold - Biographisches, Musik | Verschlagwortet mit , , , , , | Schreib einen Kommentar