Die wiedergefundene Textstelle: Vom schlechten Ruf der Grenze

Die Grenze ist ein Fremdwort, ein Grenzwort aus dem Mittelalter. Ein Wort von jenseits der Grenze. Tschechisch heißt die Grenze hranice, polnisch granica. Etymologisch bedeutet es Kamm und oder sichtbare, markierte Trennlinie. Indirekt weist es auf eine ganz andere eher unsichtbare Grenze zwischen der deutschsprachigen und der slawischen Welt hin, auf den sprachlichen Unterschied. Wer ein deutschsprachiger Mensch, ein ‎Němec ist, der wird als ein stummer Mensch eingestuft, der der heimischen Sprache nicht mächtig ist.

Grenzen haben einen denkbar schlechten Ruf. Grenzen schränken ein, schließen aus, sind ein Hindernis. Die globalen Migrationsbewegungen und die menschenrechtswidrigen Abwehrmaßnehmen haben das negative Bild von Grenzen als Inbegriff von Unfreiheit kräftig verstärkt. Demgegenüber wird die grenzenlose Welt zu einer Sehnsuchtsformel. Über den Wolken muss die Freiheit grenzenlos sein.

Eine solche Sicht erweist sich als vorschnell. Nicht nur bescheren uns einvernehmlich gesetzte Grenzen Schutz und Sicherheit, die nur verachten kann, wer sich sicher fühlt. Jede Grenzüberschreitung setzt paradoxerweise die Existenz von oft unsichtbaren Grenzen voraus. Ob wir sie einhalten oder sie zu überschreiten vermögen, hängt von den jeweiligen Gegebenheiten ab.

Das deutsche Wort teilen, das sich auf das verwirrend vielfältige Phänomen des Liminalen, also Grenzhaften, anwenden lässt, beschreibt die Zwiespältigkeit, die mit Grenzen verbunden ist. Teilen bedeutet, etwas zu trennen und zugleich zu teilen. Grenzen sind Strukturelemente unserer Existenz, die stets eine soziale ist. Grenzen sind unverzichtbare Strukturbildungen, die unsere Begegnungen regulieren. In der Welt des Kindergartens ebenso wie in der großen Weltpolitik.

Wolfgang Müller-Funk: „Grenzen – Ein Versuch über den Menschen“, Matthes & Seitz

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Katzengewandte Performance

betr.: Hörbuch-Oldie

Dass Fernsehkommissare (Krimi-)Hörbücher lesen, ist obligatorisch. Die wenigsten sind dazu – unabhängig von ihrem schauspielerischen Vermögen – in der Lage; es handelt sich schlicht um einen völlig anderen Beruf. Bisher war ich der Meinung, nur Dietmar Bär („Tatort“-Kommissar des WDR) sei wirklich richtig gut in dieser Funktion, aber nun habe ich mich auf ein Hörbuch seines Kollegen Charles Brauer eingelassen, die gekürzte Lesung des mit Tom Cruise verfilmten Thrillers „Die Firma“ von John Grisham.  

Brauer macht seine Sache außerordentlich gut. Dass er das Wort „VW Käfer“ mehrmals am Anfang betont (so als gäbe es auch Käfer anderer Automobilwerkstätten) und vom Bundesstaat „Tschintschinätti“ spricht, sind allen Ernstes die einzigen kleinen Ausrutscher, die mir aufgefallen sind. Das richtige Maß bei der Gestaltung der vielen Charaktere zu finden, ist beinahe die schwerste Aufgabe bei einer solchen Produktion. Die zweitschwerste ist, dass diese Stimmen nicht verstellt klingen. Beide meistert Brauer mit Bravour.
Ein amüsantes Detail hierzu: hin und wieder (und sicherlich unbewusst) klingt er Manfred Krug* in der wörtlichen Rede zum Verwechseln ähnlich. Mit diesem bildete er 15 Jahre lang, ab Krugs viertem Einsatz, ein Team im NDR-„Tatort“. Sie waren ein überaus populäres Duo, bei dem die Idee vom „alten Ehepaar“ banal, aber nicht unzutreffend ist. (Die Lesung entstand just im Jahr 2001, als das Ermittlerduo seinen letzten Fall löste.)

Meinen Schülern sage ich immer, sie sollten solche Charakterisierungen nicht „machen“ wie man einen Knetgummi formt, sondern als Farbe aus dem Schatz der Stimmen schöpfen, die sie sowieso kennen. Charles Brauer arbeitet offensichtlich auch nach diesem Prinzip.

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* Siehe https://blog.montyarnold.com/2025/08/24/28583/

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Der Einzige

betr.: 70. Geburtstag von Helge Schneider

Wer ein Konzert von Helge Schneider besucht, dem kann passieren, dass er genau das bekommt: ein Konzert. An manchen Abenden hat der Meister nämlich keine Lust zu blödeln, und dann jazzt er eben einfach. Ausschließlich. Oder hauptsächlich. Das ist bei einem solchen Musiker mehr als man für den Preis der meisten Eintrittskarten bekommen dürfte.
Ich gestehe: ich wäre dann trotzdem enttäuscht, denn ich wäre wegen der Gags und – schon auch – wegen der Nonsens-Chansons gekommen. Ich weiß guten Jazz zu schätzen, aber ich habe da so meine – verstorbenen – Lieblinge (Harry James, Billy May …). Und ich mag diese Musik ohnehin am liebsten auf klassischen Aufnahmen und nicht live.

Es gibt nicht so schrecklich viele lebende gute Jazz-Musiker. Aber was es noch viel seltener gibt, sind wirklich witzige deutschsprachige Humoristen. Und den Komiker Helge Schneider gibt es überhaupt nur ein einziges Mal.
All dies im Schilde führend höre ich mir also zu Helges Ehrentag die ein paar der Konzertmitschnitte und Interviews an, die sich über die Jahre bei mir angesammelt haben, und freue mich über diese völlig einmalige anarchische Komik und auf musikalische Preziosen wie mein persönliches Lieblingsschneiderlied „Gartenzaun“.
Und ich drücke den Fans, die ihn dieser Tage live erleben die Daumen, dass er in der Stimmung ist, das zu machen, was sie gern hören möchten.

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Kultfilm Azubis (15): Von draußen aus der Dunkelheit

Im heutigen Podcast geht es in zwei Filmen um einen Fremden, der das Leben einer Familie auf immer verändert. Der Originaltitel des zweiten passt für alle beide: The Night Visitor:

https://alle42kultfilme.letscast.fm/episode/e-t-der-ausserirdische-der-unheimliche-besucher

A) E.T. – Der Außerirdische / E.T. – The Extra-Terrestrial
Amerikanisches Science-Fiction-Märchen von 1982

Als ein Raumschiff aus einer fernen Galaxis seinen Erkundungsflug zur Erde Hals über Kopf beendet und abfliegt, bleibt einer der Passagiere in einem Waldgebiet nahe Los Angeles zurück. Der kleine runzlige Kerl versteckt sich in einem Geräteschuppen, wo er vom Sohn der Familie Toomey entdeckt wird. Der zehnjährige Elliott nimmt E.T., den Extra-Terrestrischen, heimlich mit auf sein Zimmer, füttert ihn mit Schokolade und bringt ihm Sprechen bei. Während E. T. ein Funkgerät zusammenbastelt, um seine Artgenossen zu Hilfe zu rufen, macht sich die Regierung auf die Suche nach ihm. Sie hat von seiner Ankunft Wind bekommen und möchte ihn konfiszieren. Es stellt sich heraus, dass E.T. die Anwesenheit auf der Erde gesundheitlich nicht bekommt. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt – und der uralte Kampf der unschuldigen Kinderseele gegen die korrupte Welt der Erwachsenen.

Über Steven Spielbergs alles überragenden Welterfolg ist kaum etwas Freundliches ungesagt geblieben. Hier kommt ein stellvertretendes Zitat von vielen, die die Begeisterung teilten. Das Filmlexikon des Katholischen Filmdienstes freute sich über ein Werk, „das die unbeschwerte Trivialität des Comicstrip, die technische Phantasie des Science-Fiction-Films und familienfreundliche Sentimentalität zur perfekten Kinounterhaltung verarbeitet“.

B) Der unheimliche Besucher / The Night Visitor
Amerikanischer Gruselthriller von 1971

Der schweigsame schwedische Bauer Salem sitzt in einer festungsartigen Irrenanstalt ein. Sie gilt als ausbruchsicher, was man angesichts der mittelalterlich-robusten Bauweise sofort glaubt. Der unschuldige Salem wurde nach einer Intrige seiner Schwester Ester und ihres Mannes Dr. Jenks hier eingekerkert, die ihm einen gemeinsam begangenen Mord untergejubelt haben, um sich die Erbschaft unter den Nagel zu reißen und ein Verbrechen zu vertuschen. Sie haben ihn in der Psychiatrie verschwinden zu lassen, um eine mögliche Begnadigung auszuschließen. Salem mimt den netten Bastler, der friedlich mit seinem Kerkermeister Schach spielt. Doch das täuscht. Wie wir schon in der ersten Szene sehen können, bricht er regelmäßig aus – und wieder ein, die zahlreichen Sicherheitsvorkehrungen trickreich umgehend. In der Zwischenzeit unternimmt er, durch ein perfektes Alibi geschützt, einen blutigen Rachefeldzug …

In einer winterlichen Landschaft und mit einem Ensemble, das eher an Ingmar Bergman erinnert, drehte Laslo Benedek ein stimmungsvolles Vergeltungsdrama, dessen autistischer Held tatsächlich wie ein Alien wirkt.

Nächste Woche: Chihiros Reise ins Zauberland  und The Innocents (De uskyldige) 

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Was taugt „Caught Stealing“?

Aktuelle Filmkritik in Kürze im Podcast

https://alle42kultfilme.letscast.fm/episode/caught-stealing-aktuelle-filmkritik

Caught Stealing
Ein Thriller von Darren Aronofsky

Hank (Austin Butler), ein junger Kalifornier, der in Brooklyn als Barmann arbeitet, gerät im Hausflur an ein Gangsterkommonado, das eigentlich seinen Nachbarn Russ, einen Punk, auf der Kimme hat. Wie sich zeigt, hat dieser vor dem Antritt einer Reise einen Schlüssel bei ihm deponiert, auf den es gleich mehrere verfeindete Gangs abgesehen haben. Hanks Leben versinkt in einer Spirale der Gewalt, in der es irgendwann nur noch darum geht, Rache für die Dinge zu üben, die nicht mehr zu ändern sind. Dass er kein Talent hat, Freund und Feind auseinanderzuhalten, macht die Sache nicht einfacher …

Der Titel klingt nach einem munteren Heist Movie, die Handlung spielt Ende der 90er (eine aus heutiger Sicht geradezu süße Vergangenheit), und der nette flapsige Held würde da gut hineinpassen. Stattdessen versinkt der solide Thriller, der sich zunächst anbahnt, in sinnlosen Gewaltexzessen und trüben Aussichten. Zwischendurch lehnt er sich immer wieder mit hilflosen Witzchen und einem süßen Haustier – diesmal eine Katze – gegen die miese Stimmung auf, die er selbst erzeugt. Die große Rettung lautet: ein Leben als Pauschaltouri unter Palmen. Es ist deprimierend. Und es ist schade drum.

Im Anschluss an diese Kurzkritik unterhalte ich mich im der heutigen Sonderfolge meines Podcasts mit Volker Robrahn über den Film.

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Virtuoser Ritt in die Abendsonne

Zum 86. Geburtstag von Peter Fricke

Peter Fricke ist das, was man am Broadway einen Triple Thread nennen würde, eine Dreifachbegabung im Sinne der dortigen Grundfertigkeiten Schauspiel – Gesang – Tanz. Übertragen in unsere Medi(athek)enwelt entspräche das z.B. der Möglichkeit, als Film- bzw. Bühnenschauspieler, Synchron- und Hörspielsprecher zu glänzen, was seltener zusammenkommt als man meinen möchte.

Als ich vor einigen Jahren das Demenzdrama „The Father“ nach dem Theaterstück von Florian Zeller im Kino sah, war ich begeistert. Der Film war insgesamt so fabelhaft, dass mir sogar das Schauspiel seines gefeierten Hauptdarstellers Anthony Hopkins darin als Schwachstelle erschien – als kleine, gut zu verschmerzende Schwachstelle. Hopkins spielt munter und anmutig und ist glaubhaft als gestandenes Mannsbild, das nicht einsehen möchte, seine Kraft könnte zeitlich befristet sein. Doch irgendetwas fehlte mir, ohne dass ich es recht hätte benennen können.
Als ich die Hörspielfassung des Stoffes erlebte, in der Peter Fricke den langsam verdämmernden André spielt, wusste ich, was mir gefehlt hat.
Während Hopkins sich von Anfang bis Ende in der gleichen Verfassung befindet und sein Hinausgleiten aus unserer Welt durch die immer übleren Ungleichzeitigkeiten und Missverständnisse kenntlich wird, die sich in seinem Dialog mit der Mitwelt ergeben, macht Fricke das Zerbröseln einer Persönlichkeit fühlbar. Er wird langsam porös, wird von Szene zu Szene fahriger und in seinem Beharren auf den Status Quo hilfloser. Das wird fein und unmerklich dosiert, und hat eine so provozierende Qualität, dass man dem alten Starrkopf in den letzten Szenen am liebsten eine kleben würde.

Im Film bricht Anthony Hopkins zuletzt in Tränen aus – eine dramaturgisch fragwürdige und schauspielerisch nicht vollauf befriedigende Darstellung. Im Hörspiel fehlt dieser Effekt. Es bleibt uns selbst überlassen, mit der Verzweiflung des Helden zurechtzukommen.

Das Hörspiel „Vater“ ist noch bis zum 6. Oktober online abrufbar: https://www.ardaudiothek.de/episode/urn:ard:episode:33a7bb75712ae398/

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Der schönste aller alten Löwen

betr.: 95. Geburtstag von Sean Connery

Lars-Olav Beier hat die Wirkung des Filmschauspielers Sean Connery 1991 so beschrieben, als er den alten Recken im gleichnamigen Taschenbuch zu den „Stars des Neuen Hollywood“ rechnete: “Vielleicht machte ihn gerade die Impertinenz, mit der er in die Welt des Reichtums und des Luxus eindringt, ohne ihr selbst anzugehören, zur unerwarteten Identifikationsfigur. Connerys Bond bittet nicht um Einlass, er verschafft sich Zutritt; statt vor den Klassenschranken stehenzubleiben, setzt er leichtfüßig über sie hinweg. (…) Im Gegensatz zu Flemings Helden fehlt Connery die snobistische Attitüde; er ist ein pragmatischer Hedonist. (…) Connery war in diese Rolle wie in einem Maßanzug geschlüpft und decouvrierte sie zugleich bei jedem Schritt als Kostümierung.“

Connery war außerdem ein Glückspilz, bei dem sich sogar Missliches als Vorteil herausstellen sollte. Offensichtlichstes Beispiel: sein frühes Altern (komplett mit Haarausfall) machte aus ihm mit etwa 40 den schönsten alten Löwen des Kinos und späteren „sexiest man alive“ (nur Burt Lancaster hat ähnlich früh damit begonnen, bildschöne Altersrollen zu spielen); selbst die zwei tiefen Falten, die ihm ein Magengeschwür in Jugendtagen einbrachte, ließen ihn nur markanter und attraktiver aussehen. Dass ihm der frühe Ruhm mit schlechter Bezahlung und dem Verbot vermiest wurde, neben James Bond mehr als einen Film pro Jahr zu drehen, führte zu einer hochinteressanten Rollenwahl bei diesen und den folgenden Projekten. Das hielt bis zu seiner letzten, eher parodistischen Rückkehr zu 007, gut 20 Jahre nach seinem Debüt in dieser Rolle. Connery hat nach dem tiefenentspannten Befreiungsschlag, als der sich „Never Say Never Again“ herausstellen sollte, nur noch wenig gemacht, was seinen früheren Ansprüchen gerecht würde. Im Wesentlichen sind hier nur „Der Name der Rose“ und „The Untouchables“ zu nennen. Der Rest ist (immerhin) Edelschrott. Sein annoncierter Abschiedsfilm war 2003 „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“. Obwohl diese Action-Komödie eine hochinteressante Vorlage hat (die gleichnamige Graphic Novel von Alan Moore) und mit Connerys großer Vergangenheit spielt, kommt nur oberflächlicher Murks dabei heraus. Das Schlimmste: der Film kreist ausschließlich um seinen eitlen Hauptdarsteller, obwohl es doch ein Ensemblefilm ist.
Schwamm drüber!

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So unheimlich wie begabt

betr.: „Manfred Krug: Ich find mich unheimlich begabt“, die Lange Nacht im Deutschlandfunk

Was bringt es, einem längst verblichenen Publikumsliebling, dem man selbst viele Stunden lang gern zugesehen hat, Steine hinterherzuwerfen? Nichts. Aber bei einem Mann, der so viel Applaus dafür erntete, als jovial-spitzfindiger Kuschelbär rüberzukommen, hat Manfred Krug etwas mehr Fallhöhe als um scheinbare Nähe bemühte Promis heutiger Tage. Und wenn ich einem ansonsten so gut recherchierten Feature zuhöre wie der aktuellen „Langen Nacht“, wurmt es mich schon, dass völlig unangedeutet bleibt, was mir alle berichtet haben, die sich zu ihrer Zusammenarbeit mit dem Sänger und Schauspieler in kleiner Runde äußern mochten: Krug war ein Tyrann, der alle um sich her bodenlos zu verachteten schien und sich ihnen in einer geradezu darwinistischen Weise überlegen fühlte. Die Text-Bild-Schere ist in diesem Falle wirklich atemberaubend, der geschilderte Kollege passt wesentlich besser zu dem Onkel, der dem Publikum wertlose Telekom-Aktien andreht, als zu seiner hauptberuflichen Persona. Auch Krugs Wirkung als Sänger beruhte auf der Illusion von Feingefühl und der Liebe zur Kreatur.

Im Feature heißt es nachsichtig, er habe sich schwer Texte merken können. Wie ich hingegen immer wieder hörte, hat er es als echter A-Promi auch gar nicht erst für nötig gehalten und jedem Spielpartner das Drehbuch wortlos vor den Bauch gedrückt, um es beim Gegenschuss ablesen zu können. Und das mag nur die handwerkliche Krönung seiner allgemeinen Umgangsformen gewesen sein.
Dass der berühmte Stahlkocher aller narzisstischen Kränkung unter dem SED-Regime zum Trotz zu den ganz großen Glückspilzen gehörte (als einziger Star der DDR, der Bonner wie auch der Berliner Republik), hat er vollständig verdrängt und lebenslang Rache für jede Debatte mit irgendwelchen SED-Fuzzis, für jede Schulhof-Rangelei geübt, in der er (unglaublicherweise) der Unterlegene gewesen sein könnte. Bis ins Erwachsenendasein an westlichen Drehorten hinein.
Der Titel der „Langen Nacht“ ist insofern klug gewählt: „Ich find mich unheimlich begabt“. Man kann ihm nicht einmal widersprechen, denn selbst als Zeitzeuge in eigener Sache auf historischen Aufnahmen ist er hinreißend. Aus dem Munde eines so heiteren und – anscheinend – weltzufriedenen Zeitgenossen hätte diese Überschrift sogar zu jeder Zeit seines Erfolges im Westfernsehen geradezu charmant geklungen.

Zu Krugs Glück gehörte nicht zuletzt die Freundschaft mit Jurek Becker. Sie hatte jenseits ihres Wertes an sich noch den Vorteil, dass ihm hier ein sehr fähiger Autor eine Rolle auf den Leib schneiderte, die bei allem Biss an Liebenswürdigkeit, Schalk und Fairness nicht zu überbieten war: „Liebling Kreuzberg“. Zwar sank die Qualität der Bücher mit dem Beginn der zweiten Staffel erheblich ab (zuletzt hat sich darüber sogar der Hauptdarsteller darüber beklagt, wie das Feature berichtet), doch das machte Beckers Tod nicht weniger schmerzvoll für seinen Serienhelden und besten Freund.

In den frühen Folgen von „Liebling Kreuzberg“ und der Stoever-„Tatorte“ auf Krugs großzügiges Naturell hereingefallen zu sein, ließ mich die „Lange Nacht“ mit einer juckenden Gänsehaut verfolgen. Erst in der Schlussphase der „Tatort“-Reihe – mit ihren immer krampfhafter werdenden ritualisierten Gesangseinlagen und einer nicht länger verhohlenen Muffigkeit in Richtung Kamera – schwappte Manfred Krugs Blick auf die Mitwelt auch über den Bildschirm hinweg. Nicht, dass es jemanden gestört hätte

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Words, Words And Music

betr.: 65. Todestag von Oscar Hammerstein II

Die Arbeit der Songtexter könnte etwas wichtiger sein als vielfach angenommen. Dafür spricht, dass die fulminante Karriere des Broadway-Komponisten Richard Rodgers in zwei Phasen unterteilt wird, die nach seinen Textdichtern benannt sind: Rodgers & Hart und Rodgers & Hammerstein. Dass der Übergang von der einen die andere Phase sich im Jahre von Lorenz Harts Tod im Jahre 1943 vollzogen hat, führt etwas in die Irre. Richard Rodgers hatte bereits die Partner gewechselt und mit Oscar Hammerstein II den sensationellen Erfolg von „Oklahoma!“ gefeiert, als der alkoholkranke Hart in einem Hotelzimmer starb.
Oscar Hammerstein war Rodgers von Habitus und Mentalität her näher. Außerdem war er nicht nur Textdichter, sondern auch Librettist. Mit Jerome Kern hatte er 1928 „Show Boat“ **hergestellt, den ersten Welterfolg des neuen Genres Musical.
Wie wichtig beide – Hart und Hammerstein – gewesen sind, zeigt sich schon an der Bedeutungslosigkeit der Arbeiten von Richard Rodgers, nachdem beide gegangen waren. Diese Werke werden von den Historikern kaum beachtet, obwohl sie zwei sehr prominente Texter aufweisen: Stephen Sondheim und Richard Rodgers selbst.
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* Siehe https://blog.montyarnold.com/2016/12/18/broadways-like-that-37-eine-insel-aus-traeumen-geboren/
** Siehe https://blog.montyarnold.com/2014/12/27/musikdampfer-mit-mission/

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Kultfilm Azubis (14): Schmetterlingseffekte

Die Hauptfiguren im Doppelprogramm des heutigen Podcasts ergäben ein sehr junges Ensemble. Vom Helden des 2. Films, dem Schauspieler Terence Stamp, nehmen wir Abschied.

https://alle42kultfilme.letscast.fm/episode/lola-rennt-der-faenger

Lola rennt
Deutscher Actionthriller von 1998

Der junge Berliner Kleinganove Manni meldet sich aus einer Telefonzelle bei seiner Freundin Lola. Es ist ein Notruf: Manni hat eine Tüte mit 100.000 Mark in der U-Bahn liegenlassen – und das ist nicht das erste Mal, dass er seinen Chef, den grauenvollen Hehler Ronnie, verärgert hat. Lola rennt los, um die Summe in den verbleibenden 20 Minuten aufzutreiben, damit Manni nicht wahlweise den gegenüberliegenden Supermarkt überfällt oder von Ronnie gekillt wird. Wie die Geschichte ausgeht, wird uns in drei Varianten erzählt, bei denen winzige Zufälle dem Lauf der Dinge eine neue Wendung geben.

„Lola rennt“ war ein Welterfolg für den leidgeprüften Deutschen Film und bedeutete den internationalen Durchbruch für Regisseur Tom Tykwer und seine damalige Lebensgefährtin Franka Potente alias Lola. Das größte Kompliment, das ihm abgesehen von zahlreichen Preisen zuteilwurde, ist sein Widerhall in der Popkultur: als Zitat oder Anspielung, in Parodien und Hommagen in Filmen, TV-Serien und Musikvideos.

B) Der Fänger / The Collector
Psychologisches US-Kammerspiel von 1965

Der verklemmte zwanzigjährige Bankangestellte Freddie Clegg gewinnt beim Pferde-Toto 200.000 Pfund. Das ermöglicht es dem Sonderling, sich in Sussex ein einsam gelegenes Bauernhaus mit einem verliesartigen Anbau zu kaufen. Im Haus pflegt er seine große Sammelleidenschaft: Schmetterlinge, die er auf den umliegenden Feldern einfängt. Im Verlies wird er dieser Sammlung ein besonders schönes Exemplar hinzufügen: die Kunststudentin Miranda Grey, die er seit langem heimlich verehrt. An ihr möchte er etwas erproben, was sich mit den Schmetterlingen nicht machen lässt: er will geliebt werden, und zwar um seiner selbst willen. Dieses aussichtslose Unterfangen wird bis zum bitteren Ende ausgetragen. Nur einer der beiden wird den Schauplatz lebend verlassen.

Nächste Woche: „E. T. – Der Außerirdische“ und „Der unheimliche Besucher“

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